Bildung des Geschmacks

Im Herbst 1993 lebte ich vorübergehend in Chicago und arbeitete als Praktikant beim Goethe-Institut. Tagsüber betreute ich Schulklassen, um sie durch eine Wanderausstellung der Berliner „Topographie des Terrors“ zu führen. Nach dem Plastisch-Machen des Naziterrors machte ich gerne einen Abstecher ins Soma-Studio in Wicker Park, vis-à-vis der U-Bahn-Station „Damen Avenue“, um meinen Mitbewohner Bundy K. Brown zu besuchen. BKB nahm zu jener Zeit das Debütalbum mit seiner Band Tortoise auf. Kennen gelernt hatte ich ihn schon, als er noch mit Tortoise-Drummer John McEntire bei der sensationellen Band Bastro spielte. Dass ich Zeuge wurde bei der Entstehung eines der wichtigsten Alben der Neunziger, verdanke ich also zu einem gewissen Teil dem Umstand des Stressabbaus. Die Musik von Tortoise half mir dabei, die Bilder von Wehrmacht-Verbrechen wieder bis zum nächsten Tag zu vergessen.

Tortoise waren die Antithese zum ruling Rocksound der frühen Neunziger. Sie bestanden aus einer doppelten Rhythmusgruppe, zwei Bassisten (einer davon BKB) und zwei Drummern. Kein Gesang. Sparsame instrumentale Prosa. Später erfand man dafür das Label Postrock. Die Tortoise-Mixtur aus runtergestrippten Grooves und dubbigen Bassschlieren zeigte auf die Ökonomie von Dancefloor-Musik. Jedenfalls war sie ungewöhnlich genug, um das Album kurz später auch bei City Slang in Berlin in Lizenz zu veröffentlichen. 60.000 Alben wurden aus dem Nichts heraus verkauft. Ein bescheidener Erfolg.

Christoph Ellinghaus von City Slang kannte ich noch aus anderen Prä-Wiedervereinigungs-Zusammenhängen. Er schrieb für Fanzines und bekleidete das zweifelhafte Amt des Bookers, um Grungekapellen durch die Provinz zu schleusen. Seine Schwester Anne, eine gute Haut, machte damals Promotion für den Efa-Vertrieb in Berlin. Die beiden Ellinghäuser waren eine ernstzunehmende geschmacksbildende Instanz. City Slang fungierte zunächst wie ein Import-Export-Laden. Heimat für kleine und mittelkleine Amibands, die in Europa niemand kannte und die nach der Rundumbehandlung bei City Slang auch in den USA mehr Fuß auf den Boden bekamen: Eleventh Dream Day, Lemonheads, J Mascis von Dinosaur Jr. etc. pp. Noch immer agiert Ellinghaus als Farmteam und päppelt Bands auf. Heute, da das Labelwesen im Feld der unabhängigen Musik nur noch Profit abwirft, wenn es mit Booking gekoppelt ist, arbeitet Ellinghaus wieder als Konzertveranstalter, der auf City Slang Platten von tourenden Bands veröffentlicht. JEROME SEIDENHEMD

■ 20 Jahre City Slang: Junip + Norman Palm: Festsaal Kreuzberg, Mi