PERSPEKTIVEN Nichtstun macht frei, in der Bahn herumpöbeln unter Umständen auch, und selbst ein Plattenspieler kann sich emanzipieren. Fünf kleine Geschichten

Wie ist es, wenn sich ein Ding emanzipiert? Es gab einmal Schallplattenspieler und Radios, die haben sich davon emanzipiert, Möbel zu sein. Als Kommoden wurden sie zuvor verkleidet, mit einer Camouflage aus Klappfächern und Schubladen umgeben, damit sie sich den Nierentischchen, Blumentapeten und Cocktailsesseln der 50er Jahre anpassten. Irgendwann aber konnte der Schallplattenspieler einfach Schallplattenspieler sein. Zum Beispiel in der Gestalt des SK 4 von 1957. Der berühmte Schneewittchensarg war plötzlich und ganz dreist ein pures Audiogerät, trug alles und nur das zur Schau, was er war: Lautsprecher, Regler, Tonabnehmer, Plattenteller. In der Gestalt dieses Produkts lief die Technik nicht mehr dem allgemeinen Geschmack voraus, sondern beide glichen einander an. Nun ist der SK 4 lediglich ein Plattenspieler mit integriertem Röhrenradio und hat, wie jedes Ding, kein eigenes Selbstbewusstsein. Seine Emanzipation wäre eine langsame Durchdringung technologischer Innovation in das zähe Geschmacksempfinden der Allgemeinheit – eine rein gesellschaftliche Angelegenheit. Der Ding-Denker Heidegger sagt hingegen: Nicht der Mensch bringt das Haus hervor, sondern das Haus den Menschen. Also noch einmal: Wer emanzipiert sich also wirklich und wer schaut nur zu?

Der Zug ist voll. Langsam fährt er durchs Ruhrgebiet und wird mit jedem Halt noch voller. Dicht aneinandergedrängt stehen die Menschen im Gang. Mitten in der Enge ist ein angetrunkener Fußballfan. Eigentlich, so scheint es, ist er ein Schüchterner, doch heute hat er sich genug Mut angetrunken, um halblaut herumzupöbeln. Ein Mütterchen mit Kopftuch und ihr Mann wollen sich ängstlich an ihm vorbeiarbeiten, doch sie bringen sein unsicheres Gleichgewicht ins Wanken. „Hey“, vergreift er sich im Ton, „ihr könnt ja was sagen.“ Ohne zu ihm aufzublicken, entschuldigt sich der Mann. „Verzeihen Sie“, flüstert auch sie mit Akzent und gesenktem Kopf. Die devote Reaktion der beiden beschämt den Angetrunkenen und er setzt an, sich zu entschuldigen, doch etwas zerschlägt seinen Versuch. Der Sohn des Paares zwängt sich ganz nah an ihn heran und sieht ihn scharf an: „Halt’s Maul, Alter!“

Mit performativen Sprechakten, so die Theorie des Philosophen John L. Austin, werden Handlungen vollzogen und Identitäten formuliert. Personen, ob Angetrunkener oder Mütterchen, setzen sich durch dieses Tun zueinander in Beziehung, sie schaffen Erwartungen und Zwänge. Ein performativer Sprechakt ermöglicht aber auch, sich von Gegebenheiten zu emanzipieren, zum Beispiel mit einem weiteren „Halt’s Maul“. Wahr oder falsch ist ein Sprechakt hingegen nicht. Er kann nur gelingen oder fehlschlagen.

Elisa von der Recke war eine emanzipierte Frau. Von ihrem ersten Ehemann 1781 geschieden, lebte sie in „wilder Ehe“ mit dem Dichter Christoph August Tiedge zusammen. Sie pflegte Kontakte zu den Geistesgrößen ihrer Zeit, zu Schiller, Kant oder Goethe, und war selbst Dichterin und Diplomatin. Eine schonungslose Schrift über den bekannten Hochstapler Alessandro Cagliostro machte sie im gebildeten Europa berühmt. Katharina die Große sicherte ihr in Anerkennung für diese kühne Veröffentlichung eine lebenslange Rente zu. Elisa von der Recke war unabhängig, selbstbestimmt und scheute sich nicht vor Kritik. Der bekannte Porträtist Anton Graff nahm sie in die Galerie herausragender Persönlichkeiten ihrer Zeit auf. Als klug und empfindsam, in voller Reife ihres Wesens, stellte Graff sie 1794 in einem Gemälde dar.

Briefwechsel aus ihren Ehejahren mit dem Kammerherrn Magnus Georg von der Recke zeigen aber, dass sie keine Legitimation für ihr Freiheitsstreben fand, so lang sie ehelich liiert war. Erst als ihr Gatte nach Jahren ihrem Wunsch nach einer Scheidung zustimmte, begann Elisa von der Recke ihr Wanderleben durch Europa. Ihre Unabhängigkeit musste ihr zunächst gewährt werden, von oben herab musste sie in die Eigenständigkeit entlassen werden, ehe sie zu jener mündigen Frau auf Graffs Porträt wurde.

VON SOPHIE JUNG

Die morgendliche Sonne scheint klar durch die breiten Berliner Straßen bis auf die hohen Fassaden der sie säumenden Altbauten. Bald wird der jährliche Marathonlauf beginnen. 40.000 Läufer und eine Million Beifall klatschende Zuschauer werden dieser Feier zur „Vitalität des Körpers“ besuchen. Jetzt ist es noch ruhig. Nur Vereinzelte treffen die ersten Vorkehrungen, der Wurstgrill wird aufgebaut, Bands checken ihren Sound. Ein Saxofonist, soeben spielte er noch Tonleitern, wechselt plötzlich zu einer Fanfarenmelodie. Die ersten Teilnehmer des Marathons passieren schon die Route. Allerdings sind es keine Läufer, sondern Körperbehinderte auf Liegerädern. Die Arme kurbeln die Pedale, das Gesicht ist auf die heftig atmende Brust gelegt, der angestrengte Blick auf den Asphalt gerichtet, dem nächsten Ziel, der nächste Kurve gewidmet. So exponiert bringen diese Sportler ihre Behinderung und Kraft, die Grenzen und die Überwindung ihres eingeschränkten Körpers zusammen. Das Saxofon und das einsame Klatschen eines zufälligen Passanten hallen durch die Berliner Leere. Wie war das mit der Emanzipation, braucht sie nicht ein Publikum?

Erdem Gündüz war in diesem Sommer der Duran Adam, der stehende Mann. Als die Spannungen zwischen der Gezibewegung in Istanbul und den türkischen Autoritäten ihren Höhepunkt erreichten und nichts mehr ging, blieb Gündüz einfach stehen. Alles verweigern: Bewegung, Tätigkeit, bis hin zur Kommunikation mit sich selbst – das ist die Kraft dieses Protests, in dem Ohnmacht und Widerstand zugleich eine Form finden.

Es gibt Menschen in der Geschichte, die haben das Stehenbleiben zu einem dauerhaften Zustand erklärt. Simeon Stylites der Ältere, ein spätantiker Mönch aus Syrien, harrte auf einer Säule aus, viele Jahre lang. Für seine kompromisslose und übersteigerte Form der Askese wird Simeon, der Stylit, von Christen verehrt. Doch politisch gedeutet, war sein Säulenstehen ein Protest. Von dort oben trat er für Arme und Verfolgte ein. Anders als Erdem Gündüz aber, den die Polizei zum Verlassen des Taksimplatzes nötigte, hielt er auf dem Pfeiler bis zu seinem Lebensende aus. Mit der Zeit mag sich der Säulenheilige dann von allen Zwängen und Regeln gelöst haben. Er brauchte keine Behausung, keine Arbeit, er war frei.

Man könnte vermuten, Simeon Stylites habe sich von allem emanzipiert. Doch eigentlich hat er sich oben auf seiner Säule nur außerhalb der Gesellschaft positioniert. In ihr befreit hat er sich nicht.