Ibtihel Abdellatif

TUNESISCHE STIMMEN 2 Die Frauenaktivistin: Gott hat mich frei geschaffen

INTERVIEW SARAH MERSCH

Über sich: 1991 bin ich aus der Uni ausgeschieden. Sie haben mir gesagt: „Wenn du den Magister machen und promovieren willst, zieh das Kopftuch aus.“ Ich habe es nicht gemacht, denn das ist meine persönliche Angelegenheit, mein freier Wille, meine Entscheidung. Die Revolution ist unser Leben. Wir waren innerlich fast tot, sie hat uns das Leben zurückgegeben. Das Erste, was ich nach dem 14. Januar gemacht habe: Ich habe mich wieder an der Uni eingeschrieben.

Kurzbio: Ibtihel Abdellatif, 44, ist Religionswissenschaftlerin und Lehrerin. Nach dem Sturz Ben Alis hat sie die Organisation Nisa’ Tounsiat (Tunesische Frauen) gegründet, die sich um die Belange weiblicher Folteropfer kümmert. Rund 200 Folterfälle hat die Organisation bereits registriert. Nachdem Abdellatif ihr Studium unter dem alten Regime nicht weiterführen konnte und keine Arbeit fand, hat sie ihr Studium nach dem Umsturz wieder aufgenommen und ihre Masterarbeit über die politische Betätigung von Frauen in Tunesien geschrieben. Seit 2013 arbeitet sie im Religionsministerium. Sie legt Wert darauf, dass sie keiner politischen Partei angehört.

taz: Was bedeutet für Sie Emanzipation?

Gott hat mich frei geschaffen, und er hat alle Menschen als freie Wesen geschaffen. Ich habe meine Freiheit, meine Würde, und auch meine Verantwortung. Emanzipation bedeutet, alle Rechte zu haben, denn die Religionen haben uns alle Rechte gegeben. Emanzipation bedeutet auch Gleichheit, ein gleiches Einkommen zu haben, und gleichzeitig seinen Aufgaben und Pflichten nachzukommen.

Wer oder was hat Ihre eigene Emanzipation beflügelt?

Mein Glauben. In der arabischen Tradition gibt es viel Unwissen, rückwärtsgewandtes Denken und Unterdrückung der Frauen. Aber ich habe den richtigen Islam kennengelernt. Das möchte ich weitergeben. In meinem Gedanken und meinen Projekten war und bin ich frei und stark. Ich hoffe, dass ich dies an Frauen weitergeben kann, die unterdrückt werden.

Was heißt für Sie Emanzipation im persönlichen Bereich?

Entscheidungsfreiheit. Der Respekt in der Familie: Ich bin verheiratet und habe drei Söhne, ich bin von Männern umgeben. Und als ich gesagt habe, dass ich mich zivilgesellschaftlich engagieren werde, haben sie mich unterstützt – und wäre das nicht der Fall gewesen, ich hätte es trotzdem getan. Ich gehe arbeiten, ich engagiere mich in der NGO, ich trage die Stimmen der Frauen, die wir unterstützen, an die Öffentlichkeit, ich bin in den Medien. Außerdem mache ich Sport, studiere und führe meine wissenschaftlichen Recherchen weiter. Ich fühle mich als Frau respektiert.

Was bedeutet für Sie die Emanzipation Tunesiens?

Am 14. Januar, als keiner wusste, was passiert, und wir nur ein altes Stück Brot zu essen hatten: das war das Beste, was ich je gegessen habe, denn wir waren frei. Ich habe Angst, dass wir das wieder verlieren, denn die Freiheit ist das Schönste, was wir haben. Die Diktatur, die Unterdrückung und die Folter dürfen nicht zurückkehren. Die Elemente der Konterrevolution sind präsent, aber wir als Zivilgesellschaft versuchen stark zu sein und unser Land zu verteidigen.