schurians runde welten
: Der bessere Fußball

„Wir sind in Dimensionen angekommen, mit denen wir überhaupt nicht gerechnet haben und die uns unerwartete Probleme bereiten.“ (Michael Donnermeyer, Fan-Meile Berlin )

„Nützliche Idioten“, grummelte M. „Wie bitte?“, fragte ich. „Brasilien ist der nützliche Idiot des Weltfußballs“, sagte Martin. Ob es am Bier lag? Zwischen uns machte sich jedenfalls dieses blinde Verständnis von Angetrunkenen breit und ich verwandelte seinen verbalen Kurzpass sicher: „Wenn Brasilien der nützliche Idiot des Weltfußballs ist, dann ist Ronaldinho Onkel Tom.“ M. nickte und in mir prasselte dazu zufrieden Applaus für die schöne Thesenfolge, die ich sofort in mein Notizbuch schrieb, auf dessen Einband „Pulitzerpreis“ steht. Was zu viel Fernsehen und Alkohol halt so anrichten! Am Morgen danach habe ich mich geschämt.

Das nächste mal redeten wir über Jürgen Klinsmann. Er verhalte sich zum Fußball wie die New Economy zur Wirtschaft. Wenn die Blase platzt, wird nichts bleiben außer Depression und Katzenjammer. Dusselige Gedanken mit reichlich Fallhöhe – auch das möchte ich gerne vergessen.

Denn nüchtern betrachtet, ist die Euphorie um den Fußball vor allem das Produkt einer Innovation namens Beamer. Einst waren das heimorgelgroße Ungetüme, die nur bei absoluter Finsternis grobkörnige Bilder herausfunzelten. Fußball auf Großbildleinwand war eine Zumutung! Heute hat sich das Bild gedreht. Millionen versammeln sich unter Leinwänden, die an Licht- und Lautstärke, an Farbbrillanz und Auflösung mit den Beamern alter Schule so viel zu tun haben wie Schnürfußbälle mit dem Adidas-Teamgeist. Und deshalb ist auch der Zuschauerboom in den Fußballfreiluftkinos einfach zu erklären: Es ist dort der bessere Fußball zu sehen.

Neulich konnte ich zugleich auf eine Leinwand und einen Fernseher schauen. Saudi-Arabien gegen Ukraine lief im Kasten als Fußball, den ich seit Jahrzehnten schätzen gelernt habe: gemächlicher Spielaufbau, vorsichtige Angriffe, Taktiererei. Doch vergrößert auf vier mal vier Meter preschten die Spieler in Höchsttempo über die Kneipenwand. Das Projektionen schöner sind als die Wirklichkeit, kennen wir aus Hollywood: larger than life.

Ins genaue Gegenteil dieser aufgeblasenen WM sah ich auf einer Zugfahrt. Neben mir ein Mann, der auf seinem Handy die Elfenbeinküste beim Verlieren beobachtete. Eigentlich hatte ich Handy-TV für eine Propagandalüge von Mobilfunkern gehalten und ungefähr für so wahrscheinlich wie auf die Enterprise gebeamt zu werden. Dann sah ich Drogba am Ball. Der Zug fuhr an, das Bild stockte, die Sonne strahlte – und das alles kam mir ziemlich bekannt vor.CHRISTOPH SCHURIAN