Ist der Politbetrieb umfragehörig?
JA

MEINUNGEN Schwarz-Gelb bei Forsa nur noch 35 Prozent! Merkel immer unbeliebter! Befragungsergebnisse machen Schlagzeilen. Sie prägen die Hauptstadt – fernab der Wahlen

Ralf Hohlfeld, 44, ist Kommunikationswissenschaftler an der Universität Passau

Richard von Weizsäcker hatte recht, als er schon Anfang der Neunzigerjahre vor einer „Demoskopiedemokratie“ gewarnt hatte. Es gibt heute in der Tat das Phänomen policy by polls: Die einseitige Ausrichtung der Parteien an Umfrageergebnissen ist zum wesentlichen Prinzip der politischen Entscheidungsfindung geworden. Demoskopie ist Marktforschung für politische Themen, mit der die Akzeptanz von Entscheidungen im Vorfeld getestet wird. Überwiegend wird die öffentliche Meinung zu Fragen des Machterhalts vermessen, kaum zu politischen Ideen und Programmen. Als Mehrheitsbeschaffer ist die FDP besonders stark abhängig von konjunkturellen Schwankungen der öffentlichen Meinung. Deshalb reagiert sie hektisch bis panisch, statt souverän zu agieren. Policy by polls gilt nur dann nicht, wenn es einen breiten parlamentarischen Konsens gibt, der sich der öffentlichen Meinung gegenüber widerständig zeigt, etwa beim Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Noch ausgeprägter ist die Umfragehörigkeit unter Journalisten. Der Umfragejournalismus forciert den allgemeinen Trend zur Umfragehörigkeit in der Politik.

Volker Wissing, 40, FDP, ist Vorsitzender des Finanzausschusses im Bundestag

Umfragen spielen eine zu große Rolle. Sind sie sehr gut, neigen viele zu Leichtsinn, sind sie schlecht, wird häufig Aktionismus spürbar. Dabei erwarten die Menschen von Politikern vor allem eines: einen klaren Standpunkt. Deshalb dürfen sich politische Inhalte nicht an Umfragen orientieren. Maßstab des Handelns muss die Überzeugung der gewählten Politiker sein. Es fällt zwar schwer, sich über Umfragen hinweg zu setzen, weil darin die gegenwärtige Meinung der Menschen zum Ausdruck kommt, deren Interessen wir vertreten. Trotzdem beinhaltet politische Verantwortung immer auch den Auftrag, an der Willensbildung mitzuwirken. Im politischen Tagesbetrieb setzen schlechte Umfragewerte Führungspersonen leicht unter Druck. Wer keinen klaren Standpunkt hat, ist dann schnell verloren. Ein verantwortungsvoller Politiker braucht keine Umfragen, um die eigene Position kontinuierlich zu hinterfragen und immer wieder auf Schwächen zu überprüfen. Wer panisch auf schlechte Werte der Demoskopie reagiert, offenbart, dass er sich seiner Sache nicht wirklich sicher ist. Jeder vernünftige Wähler reagiert mit dem Entzug der eigenen Stimme.

Robert Koxx, 34, Maler und Fotograf, hat die Streitfrage auf taz.de kommentiert

Umfragen sind für Politiker wie der DAX für die Börse, aber sie können noch viel mehr, denn: Abstimmungen im Internet sind eine echte Alternative zur repräsentativen Demokratie!!! Wenn das Volk als Souverän entscheiden soll, dann gibt es doch keinen direkteren Weg. Ein Grundrecht auf freien Internetzugang für alle würde die neue Staatsmacht jedem Einzelnen garantieren. Elektronische Signatur ermöglicht den technischen Schutz gegen Fälschungen, sie ließe sich in den Personalausweis integrieren, Kartenlesegerät und Software gibt’s bei der Persoausgabe gleich dazu. Die große Frage an die Runde der Staatsphilosophen ist nun, auf welche Weise die Entscheidungsfindung des Volkes in den Staat als Ganzes einfließen soll? Mein Vorschlag: Parlamente behalten, aber dem Volk die MACHT DES LETZTEN WORTES bei allen parlamentarischen Entscheidungen erteilen. Das Parlament hat dann die Funktion, sinnvolle und transparente Gesetze, die auch der einfache Bürger versteht (andernfalls gibt’s ein „Nein“), vorzubereiten. Wie wär’s mit einer Umfrage darüber?

NEIN

Gregor Gysi, 62, ist Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag

Folgte der Politikbetrieb den Meinungsumfragen, dann beteiligte sich die Bundeswehr nicht mehr am Krieg in Afghanistan, legte die Bundesregierung kein Sparpaket auf, das von 83 Prozent der Befragten als sozial unausgewogen abgelehnt wird, und zöge die Banken endlich zur Beteiligung an den Kosten der von ihnen verursachten Krise mit einer Bankenabgabe und einer Finanztransaktionssteuer heran. Dass alldem nicht so ist, zeigt eine gewisse Resistenz gegenüber den Momentaufnahmen aus Stimmen und Stimmungen. Das heißt jedoch nicht, dass Umfragen ignoriert werden. Die die Entscheidungen treffen, ziehen in der Regel die Schlussfolgerungen daraus, ihre Politik besser zu „verkaufen“, in den seltensten Fällen diese zu korrigieren. Der Politikbetrieb ist also weniger umfragehörig, aber sehr oft medienhörig.

Bettina Schausten, 45, leitet das Hauptstadtstudio des ZDF und präsentierte das Politbarometer

Hätte die FDP auf die Umfragen gehört, ginge es ihr jetzt besser. Aus den Umfragen sprach seit Sommer letzten Jahres der pure Realismus. Keinen Spielraum für Steuersenkungen sahen die Bürger bei zunehmenden Krisenängsten. Selbst die, die Wohltaten begrüßt hätten, rechneten nicht damit. Doch Realismus fehlte den Liberalen, die sich auf ihr eines Thema versteiften und aus den Umfragen nur die zweistelligen Werte in der Sonntagsfrage herauslasen. Politiker akzeptieren Umfragen meist nur als Bestätigung. Gute Umfragen sind immer richtig, schlechte Umfragen gefälscht. Der klassische Satz des Zurückliegenden lautet: Ich will keine Umfragen, sondern Wahlen gewinnen. Die Umfragen-Favoriten lassen sich mitunter verleiten, vorab den Sieger zu geben. Umfragen sind im Politbetrieb ein schnelles Suchtmittel, die wenigsten lesen sie als das, was sie sind: ein Seismograf für die Veränderung gesellschaftlicher Einstellungen. Nicht mehr und nicht weniger.

Richard Hilmer, 58, ist Geschäftsführer des Umfrage-Instituts Infratest dimap

Es gibt Politiker, die sich mehr an einer kruden Volksstimmung orientieren als an ihrem politischen Verstand – häufig genug mit Erfolg, wie jüngste Wahlen in den Niederlanden oder Belgien belegen. In Deutschland sind solche Beispiele gottlob selten. Ein guter Politiker sollte aber die Meinungen und Wertungen der Bürger ernst nehmen. Ein schlechter Politiker macht sie zur wesentlichen oder gar einzigen Richtschnur seines Handelns. Viele „unpopuläre“ Beschlüsse belegen, dass Politiker sich häufig genug gegen den wohlfeilen Applaus entscheiden. Von Umfragehörigkeit also keine Spur.

Stefan Marschall, 42, ist Politologe und Mitentwickler des Wahl-O-Mat

Regierungsparteien haben gegen Umfragemehrheiten entschieden: bei der Euro-Einführung, der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes oder der Senkung des Mehrwertsteuersatzes für Hoteliers. Das heißt aber nicht, dass Umfragen für Parteien keine Bedeutung haben. Im Gegenteil: Parteien geben selbst Umfragen in Auftrag. Dabei entsprechen die produzierten Ergebnisse manchmal frappant den Erwartungen des jeweiligen Auftraggebers. So stellt sich weniger die Frage, ob die Parteien umfragehörig sind, denn ob das eine oder andere Umfrageinstitut schon parteienhörig war.