Junge Wölfe rissen alte Schafe

FETTE SÄCKE Italiens WM-Desaster, so wird es zwischen Turin und Rom auch wahrgenommen, ist nur neuestes und sichtbarstes Symptom der heftigen Krise

Das ist die gesellschaftliche Misere: Italiens „wir“ zerfleddert, im WM-Team genauso wie im Land

VON MICHAEL BRAUN

Der Schiedsrichter? Unfähig, auf einem Auge blind oder korrupt. Der Ball? Falsch aufgepumpt. Der Gegner? Hinterhältig.

„Das wird nichts“, schüttelte der Lebensmittelhändler um die Ecke schon eine Stunde vor dem Anpfiff gegen die Slowakei den Kopf. „Heute fliegen wir raus.“ Dann setzte dieser Kassandro nach: „Völlig verdient übrigens.“

Immerhin „wir“ sagte er noch – aber eigentlich sind die Italiener fertig mit diesem Team und seinem Trainer, haben sie bloß Häme und Hohn für Lippi und seine Spieler. Dabei passt das „wir“ für die Truppe vielleicht sogar viel besser, als es Italien recht sein kann, ist diese Nationalelf in bitter-ironischer Weise Spiegel eines ermatteten Landes.

Eine abgehalfterte Altherrenauswahl habe Marcello Lippi in Südafrika aufs Feld geschickt, ätzen jetzt die Kritiker in den Medien genauso wie in den Bars. Bloß: Seniorentruppen sind in Italien wirklich überall anzutreffen, ob in der Politik, den Universitäten, den Medien oder den Gerichten. Ministerpräsident Berlusconi wird in drei Monaten 74, Staatspräsident Giorgio Napolitano ist weit über 80, Abgeordnete unter 30 sind im Parlament rar. Gerade gärt es mächtig unter den Universitätsprofessoren; die Regierung nämlich erwägt, sie demnächst bereits mit 65 in den Ruhestand zu schicken, statt sie noch mit frischen Erkenntnissen, die 72-Jährige so sammeln, auf Studierende loszulassen.

Ein „unschätzbarer Erfahrungsschatz“ werde damit auf den Müll befördert, greinen die Senioren. Ein solcher sprach vor dem Turnier noch für die gescheiterte WM-Auswahl. Aber es war eine – auch das hat sie mit dem Land gemein –, in der unbequeme, hungrige Individualisten nichts verloren hatten. Lippi wollte „ein starkes Kollektiv, eine Gemeinschaft“ – und prämierte Zugehörigkeit, angefangen beim „Juventus-Block“, der das Rückgrat seiner Mannschaft bildete, auch wenn er schon zu Hause in der Meisterschaft nichts gerissen hatte. „Das haben wir schon immer so gemacht“, lautete die Auskunft auf kritische Nachfragen.

Ein Mario Balotelli, jung, noch nicht satt, mit Können gesegnet, ein Spieler, dessen Pässe auch ankommen – nein, auf den wollten sie gerne verzichten. Der riskiert ja manchmal eine dicke Lippe, macht den Mund auf, sagt seine Meinung, statt sich ins Mittelmaß einzuordnen – hieß es. Ein ausgerechnet auch noch schwarzhäutiger junger Kerl, der nicht devot den Kopf senkt vor den Altvorderen, sondern bisweilen richtig laut wird, wenn ihm was nicht passt: Das ist im italienischen Schema einfach nicht vorgesehen. Lieber läuft eine träge gewordene Rentnertruppe auf den Platz – und verliert gegen ein slowakisches Team, das ausgesprochen hungrig agierte: drahtige Wölfe unter fetten Schafen.

Dass dann der Mittelfeldspieler Claudio Marchisio beim Absingen der Hymne vor der Partie gegen Paraguay auch noch das italienische Nationallied verballhornte und vom „diebischen Rom“ sang, wie es die separatistisch-rassistische Lega Nord seit Jahren predigt, rundet das Bild nur noch ab: Italiens „wir“ zerfleddert, im WM-Team genauso wie im Land. Auf Radio Padania, dem Sender der Lega Nord – immerhin Regierungspartei im diebischen Rom – jubelten die Moderatoren, als endlich ein Tor fiel: für Paraguay.

Wenigstens diese Wunde scheint nun, nach dem Ausscheiden Italiens, geheilt. Der Lega-Nord-Minister Roberto Calderoli jedenfalls macht sich plötzlich Sorgen, wie man dem Land wieder zu alter Glorie am Ball verhelfen kann. Zum Beispiel mit dem einfachen Rezept: die wirklich guten Spieler rein ins Team, die jüngeren nach vorn? Mitnichten, schließlich geht es noch einfacher: „Ausländer raus“ aus der heimischen Fußballliga, fordert Calderoli. Und findet so wunderbar zurück zur Tradition: Wieder mal sind „die anderen“ schuld, wenn die „Azzurri“ rausfliegen.