: Das verflixte rote Tuch
Die Wahrheit-Wochen der kleinen Verbrechen. Heute: Verunglückte Spionage
„Als Zauberer oder Magier werden Menschen bezeichnet, deren Fähigkeiten aus der Perspektive des Beobachters nicht in Einklang mit dessen bisheriger Interpretation der Umwelt stehen und sich von ihm auch nicht religiös deuten lassen.“ (Wikipedia)
Vor genau zehn Jahren war ich Beleuchterin an einem kleinen Theater, und wir hatten einen Zauberer zu Gast. Seit ich denken kann, war ich fasziniert von Zauberern und Zauberkünstlern. Selbstverständlich hatte ich als Kind einen einfachen Zauberkasten und Zauberbücher, und ich meldete mich als Allererste, als es darum ging, wer von uns Beleuchterkollegen denn den Zauberer zwei Wochen lang beleuchten solle. Und weil ich so aufgeregt mit den Fingern schnippte und immer „Ich! Ich!“ rief, bekam ich den Zuschlag.
Drei Stunden vor der ersten Vorstellung traf ich zum ersten Mal mit Wittus Witt, dem Zauberkünstler, zusammen. Ich war sofort hingerissen von seinem Charme, seiner Freundlichkeit und seinem Beruf, und ich dachte so heimlich bei mir: „Ha! Dir werd ich auf die Finger gucken, deine Tricks werde ich schon durchschauen!“ Wir richteten das Licht ein, besprachen die Stichwörter und probten einmal durch, und dann ging die Vorstellung auch schon los.
Die Saaltür wurde geschlossen – mein Zeichen! Nach genau drei Sekunden fuhr ich das Licht runter und die Musik rein: ein filigranes Geflecht von großen, mittelgroßen und kleinen, dunkel schimmernden akustischen Blasen, so klang es. Stockduster war es, ich konnte das Publikum aufgeregt mit den Füßen scharren hören und fuhr nach genau sieben Sekunden den Spot hoch. So war es abgesprochen, und ich schwöre bei Gott, dass ich mir nie vorher und nie nachher so große Mühe gegeben habe, eine gute Beleuchterin zu sein.
Und Wittus Witt erschien strahlend im runden Licht, hob seine Hände, holte ein kleines, rotes Seidentuch aus der Brusttasche, pustete es an, ließ es verschwinden und wieder erscheinen … „Staunen ist der Ausgangspunkt der Fantasie“, sprach er zum Publikum. „In den nächsten zwei Stunden möchte ich Sie, meine Damen und Herren, einladen zu staunen. Ich bin nämlich ein Zauberer. Aber natürlich zaubere ich nicht wirklich, denn wenn ich das könnte, stünde ich dann heute Abend hier?“
Und damit war dieses verflixte rote Tuch wieder verschwunden. Alles klar! Ich würde schon noch dahinter kommen, wie er das machte, ich hatte ja noch zwei Wochen Zeit. Bühnenlicht hoch, dem Zauberkünstler auf die Finger gucken!
Nach der ersten Vorstellung machte ich mir noch keine großen Gedanken darüber, dass ich keinen, aber auch wirklich gar keinen von seinen Tricks kapiert hatte. Ich verstand den Anfangs-Gag mit dem roten Tuch nicht, ich verstand nicht, wie er Bälle durch seine Ohren in einen Messingbecher wandern ließ, schon gar nicht verstand ich seine Gedankenleserei, oder wie er ein volles Glas Orangensaft in eine garantiert leere Papiertüte zauberte. Die Kartentricks waren auch völlig unverstehbar, aber da konnte ich mir noch etwas mit „gezinkt“ denken.
Nach drei Vorstellungen wurde ich langsam etwas unruhig. Schon damals war ich nicht so naiv, ernsthaft anzunehmen, dass Wittus womöglich tatsächlich zaubern könnte – wie machte er es also? Ich hatte keine Ahnung. Abend für Abend sah ich ihm genau auf die Finger, und ich halte mich nicht für den allerblödesten Menschen auf der Welt, doch die Tricks, die ich jetzt wirklich verstehen wollte, die verstand ich nicht. Die Tage zogen ins Land, und es war schon die zweite Woche angebrochen, ohne dass ich nur um ein Deut klüger geworden war. Abends ging ich manchmal mit Wittus in das Gasthaus gegenüber. Und jedes Mal sagte ich ihm dann, dass ich seine Tricks nicht raffte, und er lachte immer freundlich: „Corinna, immer noch nicht? Du hast das doch jetzt schon so oft gesehen, du verstehst es noch immer nicht? Du musst mich nur genau beobachten, lass dich nicht ablenken von dem, was ich so auf der Bühne mache, beobachte mich halt nur genau!“ Und ich beobachtete Wittus weiter genau. Ohne Erfolg! Ach, wie mich doch die Neugier plagte …
Am vorletzten Vorstellungstag ging Wittus am Nachmittag in das Gasthaus gegenüber, um noch etwas zu essen. Ich schlich mich in seine Garderobe. Ich stöberte in seinen Sachen. Ich durchkramte seine Utensilien wie ein Fernsehdetektiv – und ebenso hektisch blickte ich immer über meine Schulter, weil ich Angst hatte, erwischt zu werden! Und dann sah ich es! Ich sah, wie er diesen einen Trick macht! Einen von hunderten, aber ich fühlte mich sofort genauso wie damals, als ich die Schränke meiner Eltern durchwühlte und dann plötzlich wusste, dass es kein Christkind gibt!
Geschlagen und voller Ehrfurcht vor Wittus’ Kunst und vor allem beschämt ging ich wieder an mein Lichtpult und wartete auf die letzte Vorstellung. Ich beleuchtete wie immer sagenhaft gut, aber als dieser eine Trick kam, da wurde mir ganz flau im Magen, und ich schämte mich und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich spioniert hatte! Und die Moral von der Geschichte: Zauberkünstler soll man nicht ausspionieren, denn das ist ein Verbrechen an sich selbst. Man raubt sich das Vergnügen! CORINNA STEGEMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen