Kohls Ichlinge

Ein Mittdreißiger rechnet – mal wieder – ab, will die Befindlichkeit einer Kohorte treffen und rät zu Wahrhaftigkeit, Achtsamkeit und Demut: Christian Schüles „Deutschlandvermessung“

Dass Journalisten Bücher schreiben, ist heute die Regel – für vermeintliche Edelfedern gehört es gar zum guten Ton. Der 1970 geborene Zeit- und Geo-Autor Christian Schüle will von dieser Regel keine Ausnahme machen und hat mit dem Piper Verlag einen Vertrag über gleich zwei Werke abgeschlossen – mit Option auf ein drittes in Romanform.

Sein Debüt trägt den Titel „Deutschlandvermessung“ und kündigt – aufgepasst! – „Abrechnungen eines Mittdreißigers“ an. Immerhin weiß Schüle um die Tücken von Bestandsaufnahmen à la Florian Illies und grenzt sich im Prolog schlau ab von der „hinreißend unbekümmerten Selbstbeschreibung einer Golf fahrenden oder Golf spielenden Generation“. Er hingegen verspricht Reflexionstiefe und betont, zunächst nur für sich zu sprechen – in der Hoffnung, „die Befindlichkeit einer Kohorte zu treffen“. Was ihn nicht daran hindert, ausgerechnet mit einer Begegnung mit Helmut Kohl zu beginnen und in bekannter Manier die saturierte Heimeligkeit dieser Ära zu beschwören.

In der Folge versucht Schüle eine gesellschaftspolitische Verortung seiner Altersgenossen – unterteilt in kryptisch zwischen Poesie und Physik betitelte Großkapitel wie „Achsen“, „Rückräume“, „Wendekreise“. Als Chiffre für die Mittdreißiger von heute prägt er den Begriff des „Ichlings“. Schüles Analyse zufolge eine Spezies, die „vom postmodernen Idyll ins globalisierte Nichts geworfen“ wurde; die aller weltanschaulichen und sozialstaatlichen Gewissheiten beraubt ist und zugleich gezwungen, sich ständig neu zu erfinden.

Ignoriert man großzügig, dass nicht alle Erkenntnisse über die einschneidenden Folgen von Aids, Tschernobyl und Gorbatschow neu sind und der Sprachmix aus Wissenschafts- und Trendvokabeln bisweilen anstrengt, so gelingen Schüle gute Beobachtungen. Seine Einlassungen über die Auswüchse der Mediengesellschaft („Kernerisierung des Fernsehens bei gleichzeitiger Entkernung“) und über die Auflösung der klassischen politischen Milieus und die Lage auf dem Arbeitsmarkt sind treffend. Geschickt pendelt er zwischen zwei Erzählhaltungen: Mal schließt er sich in die Betrachtungen ein (in Form eines in Versalien geschriebenen WIRs), mal analysiert er aus der distanzierten Draufsicht.

Gelegentlich wirkt das elitär und verschwurbelt – etwa, wenn er Bildungsdefizite beklagt oder auf Loreley und Wartburg nach „kerndeutschen“ Mythen und Konstanten der Bildungsbürgerkultur sucht. Manchmal ist man froh, bestimmte Milieus, etwa das der Neospießer („sie interessiert sich für Power-Yoga, Golf und Aurasoma-Beratung, er gießt die rosaroten Balkongeranien, liest ‚Men’s Health‘ und ist Fan von Werder Bremen“), nicht zu kennen. Es überwiegt aber der Eindruck eines gehaltvollen, nüchtern vorgetragenen Gedankenspiels. Schüle sieht immer auch das Positive, hebt hervor, dass die Überwindung ideologischer Denkschemata eben nicht nur Orientierungslosigkeit, sondern auch Offenheit und gelebten Pluralismus bedeuten kann.

Erst am Ende, als er offenbar meint, die Frage, wohin das alles führen soll, mit einem konstruktiven Konzept beantworten zu müssen, wird sein Optimismus drollig: Schüle rät da ganz Matthias-Kalle-mäßig („Verzichten auf“) zur Wiederentdeckung von Wahrhaftigkeit, Achtsamkeit und Demut und empfiehlt, sich auf die Stoiker zu besinnen. Schließlich gipfelt seine Botschaft in der Formel: „Lasset Hoffnung und Freude walten! Und bleibet gelassen.“ Machen wir, Meister – vielleicht sparen wir uns dann sogar den Kommunikationscoach! PETER LULEY

Christian Schüle: „Deutschlandvermessung – Abrechnungen eines Mittdreißigers“. Piper Verlag, München 2006, 188 Seiten, 16,90 Euro