Zähringers Katze

Alles eine Frage der Perspektive: Norbert Zähringers literarisches Universum ist bevölkert von Figuren, die zum Licht streben, denen die letzte Erkenntnis aber oft versagt bleibt. Auch der Leser verirrt sich leicht in einem Labyrinth aus Abschweifungen. Ein Porträt

VON ANDREAS RESCH

Norbert Zähringer ist ein Mann mit Entertainer-Qualitäten. Während ich noch mit meinem Aufnahmegerät beschäftigt bin, reiht der Autor, dessen zweiter Roman „Als ich schlief“ vor kurzem erschienen ist, bereits Anekdote an Anekdote. Er erzählt von Kinderwagenspaziergängen mit Schriftstellerkollege Ingo Schulze in Prenzlauer Berg. Oder wie Brad Pitt während seines Berlin-Besuchs so sehr nach Brad Pitt aussah, dass er von vielen für eine Fälschung gehalten wurde. Zähringer gelingt innerhalb weniger Minuten ein Monolog, der Brad-Pitt-Lookalikes, Tendenzen in der neueren Literaturkritik – da gebe es ja Emphatiker und Analytiker – und die Pointe aus einem Loriot-Sketch zusammenführt. Beat this!

Komplexitäten reizen den in Wiesbaden aufgewachsenen Autor, der seit 1991 in Berlin lebt, auch in der Literatur. Etwa an Don DeLillos Roman „Unterwelt“, wo „mehrere Zeitstränge neben- und gegeneinanderlaufen“ – das sei wie in seinen eigenen Geschichten. Was man aber bitte keinesfalls so missverstehen dürfe wie ein Kritiker, dem er von seiner Begeisterung für DeLillo berichtete – und der den Amerikaner prompt zu seinem großen literarischen Vorbild erklärte. Dabei misstraut Zähringer solchen Vergleichen, „weil man immer reduziert und zuweilen aus purer Bequemlichkeit in eine Schublade gesteckt wird“. Solche Erfahrungen haben den Autor geprägt, schon fast peinlich ist er denn auch darauf bedacht, nicht in das gängige Berliner-Schriftsteller-Klischee gepresst zu werden: „Lassen Sie mich in Ihrem Porträt bitte nicht zu viel Latte Macchiato trinken.“

„Um die Entscheidung, zwischen A und B wählen zu müssen, herumkommen“, nicht kategorisierbar sein – das macht für ihn den Reiz aus. Wohl auch deshalb begeistert ihn das Gedankenexperiment „Schrödingers Katze“, das in „Als ich schlief“ mehrmals zitiert wird. Darin wird eine Katze in eine Kiste mit einer radioaktiven Substanz gesteckt, wobei im Verlauf unentscheidbar ist, ob die Katze lebt oder tot ist. Gelöst wird das Problem durch die so genannte „Many Worlds Theory“, nach der sich das Universum in beliebig viele Versionen aufspalten kann. In diesem Fall: in Universum A (Katze lebt) und Universum B (Katze tot).

Ähnlich wie Zähringer A (der Gesprächspartner) lässt sich auch Zähringer B (der Autor) nicht gerne festlegen. Darum erzählt er in seinen Büchern oft mehrere Geschichten gleichzeitig, verknüpft scheinbar unzusammenhängende Stränge. Sein erster Roman, der den lapidaren Titel „So“ (2001) trägt, beginnt mit einem Mann namens Robert Schulz, der versehentlich eine fünf Peso-Münze in einen Zigaretten-Automaten wirft. Während Schulz auf den folgenden knapp vierhundert Seiten mit keinem weiteren Wort erwähnt wird, löst die Münze eine Serie von Ereignissen aus, die der Geschichte schließlich eine verblüffende Wendung geben.

Immer wieder fühlt man sich beim Lesen von Zähringers Büchern an die aberwitzigen Kapriolen eines Douglas Adams oder Matt Ruff erinnert. Als Meister des stilvollen Abschweifens legt er permanent Köder aus, die man meistens schluckt, manchmal aber auch wieder ausspucken muss. Ansonsten droht man, sich im Labyrinth aus Zitaten, Andeutungen und Verbindungen zu verlaufen. Eine Erfahrung, die Zähringer selbst sehr gut kennt: Beim Schreiben wisse er zwar meistens, wie eine Geschichte ausgehen soll, „nicht aber, was auf den nächsten hundert Seiten passiert“.

„Als ich schlief“ beginnt an der Peripherie: „Eines Abends im Frühjahr 1945, als der Himmel klar wurde und der Schnee geschmolzen war, hörte der Obergefreite Joseph Hutzinger ein Geräusch im Wald.“ Kurz darauf wird er von einem amerikanischen Soldaten gefangen genommen. Wieder auf freiem Fuß, schreibt der gelernte Koch ein Buch mit dem Titel „Reich und glücklich in sechs Tagen“, das später Paul Mahlow, ehemaliger Langzeitstudent und Judomeister, auf einem Flug von Hongkong nach Los Angeles liest – und hasst. Das ist unterhaltsam, witzig, dabei niemals zynisch, gerade weil die Figuren bewusst überzeichnet, beinahe schon Karikaturen sind. „Mit realistischer Literatur im klassischen Sinne“, so Zähringer, „hat das alles nicht mehr viel zu tun.“

Stattdessen geht es ihm um die erkenntnistheoretische Frage: „Was nehmen wir von der uns umgebenden Welt überhaupt wahr?“ Abgesehen vom allwissenden Erzähler, dem Koma-Patienten Alp, ist es den Personen in „Als ich schlief“ unmöglich, die Koinzidenzen, ihr Leben bestimmen, zu erkennen. Was – und hier kommt die „Many Worlds Theory“ wieder ins Spiel – im Universum A für Alp und den Leser ein unglaublicher Zufall ist, wird im Universum B, das von den restlichen Figuren bevölkert ist, ganz anders wahrgenommen. Die Charaktere sind zu gefangen in ihren Problemen und Gedanken, um die sich permanent ereignenden Zufallsschübe zu bemerken. „In einem trivialen Film“, so der Autor, „würde alles am Schluss aufgelöst“, so dass die Figuren mit ihrem Schicksal versöhnt werden. Nicht so bei Zähringer: Hier bleibt den Figuren die letzte Erkenntnis versagt.

Philosophieren als Unterhaltung, stundenlang über die Universen A und B nachdenken, von unbegreiflichen Zufällen berichten – als Norbert Zähringer auf die Uhr schaut, ist das vorbei. Er müsse jetzt wirklich gehen, seine Kinder warteten. Und denen ist es ziemlich egal, in welchem Universum sich ihr Vater gerade herumgetrieben hat.

Norbert Zähringer: „Als ich schlief“. Rowohlt, Reinbek 2006. 288 S., 19,90 €