Die zerknitterte Lippe

GAUCK Künstler und Politiker widmen ihrem Wanderprediger in Berlin ein Kulturkränzchen

Unter einem Radialsystem muss man sich ein Gefüge mit einem starken Kern vorstellen, dessen Energie in konzentrischen Kreisen nach außen drängt. Insofern war Sasha Waltz’ Tanztheater am Kreuzberger Spreeufer in Berlin gut gewählt, als sich vergangenen Freitag dort eine bunte Truppe aus Facebookern, Parteisoldaten und Künstlern versammelte, um ihrem Helden Joachim Gauck spontan ein Kulturkränzchen zu winden.

Denn der ewige Bürgerrechtler ist so ein Kraftkern. Wie ein Staatsmann aus dem Bilderbuch stand der „Mann mit den zerknitterten Lippen“ (Maxim Biller) in der Halle und genoss den Jubel seiner neuen Anhänger, um sich in der nächsten Minute in den selbstironischen Wanderprediger der demokratischen „Selbstermächtigung“ zu verwandeln.

Der Seventysomething kann so unprätentiös und jungenhaft auftreten, dass einem die Spucke wegbleibt. Ob er einen alten Freund aus der Bürgerrechtsbewegung umarmt oder die Jungs der Multikultiband Orientation enthusiasmiert um eine Zugabe bittet. Gegen Gaucks honorige Quicklebendigkeit wirkte die versammelte Rot-Grün-Prominenz von Sigmar Gabriel bis Renate Künast ausgesprochen seniorig.

Flächendeckend breitete sich die kulturelle Hegemonie für den linken Konservativen nach dieser Kreuzberger Nacht noch nicht aus. Mit Schriftsteller Peter Schneider, der Pianistin Ming, Sebastian Krumbiegel („Die Prinzen“) und Bastian Sick („Zwiebelfisch“) macht man keine Kulturrevolution. Unterschwellig waren die Radialwellen eines neuen Aufbruchs aber schon fast körperlich zu spüren. Als Gauck „Wir machen zusammen diesen Staat“ rief, begann Bewegungsgroßmutter Eva Quistorp in dem bestuhlten Saal demonstrativ entrückt zu tanzen.

Ob sich die Kraftlinien dieses heiteren Abends weiter als bis an das andere Spreeufer ausbreiten, muss sich aber erst noch zeigen. In der Szenekneipe Möbel Olfe, zwei Kilometer Luftlinie vom Radialsystem entfernt, hob Thekenkönigin Evelyn bei dem Namen Gauck kaum den Kopf. Dabei hatte Maxim Biller ihn doch gerade als „Deutscher meines Vertrauens“ gepriesen. Evelyn nüchtern: „Zumindest optisch ganz interessant.“ INGO AREND