Die Frau fürs Große

LITERATURPREIS Von der Fremdheit, die zwischen denen herrscht, die sich doch bestens kennen müssten: Für ihr Romandebüt „Fünf Kopeken“ erhält Sarah Stricker den Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses

VON FRANK KEIL

„Meine Mutter war sehr hässlich. Alles andere hätte mein Großvater ihr nie erlaubt.“ Sie knallen, die ersten beiden Sätze in Sarah Strickers famosem Debütroman „Fünf Kopeken“: Ohne den Verweis auf den ersten Satz kommt keine Rezension aus, mehr als ein erboster Kommentar findet sich auf Sarah Strickers Facebook-Seite: so dürfe man doch nicht über seine Mutter schreiben!

Stricker holt tief Luft und erzählt: „Ich hatte im Gymnasium einen sehr guten Freund, dessen Mutter gestorben ist; er hat da sehr selten drüber gesprochen. Wenn er aber doch mal von ihr erzählt hat, dann war da immer dieser eine Satz: ‚Meine Mutter war wunderschön‘.“ So berührend das auch gewesen sei, immer habe sie sich gefragt: „Warum entscheidet er sich gerade für so ein Klischee? Er könnte doch auch sagen: ‚Sie hat mir die irrsten Geschichten erzählt‘. Oder: ‚Sie war so witzig‘.“

Oft habe sie seitdem darüber nachgedacht, warum Mütter in Literatur, Film und nicht zuletzt im wahren Lebens immer schön sein müssen. Eine erste Antwort: „Ich glaube, es hat viel damit zu tun, dass es so ziemlich das Oberflächlichste ist, was man über jemanden sagen kann. Die meisten Kinder wollen ihre Eltern nun mal nur sehr oberflächlich betrachten. Das ist eine Form von Selbstschutz.“

Damit ist auch das Spannungsfeld skizziert, von dem der sich über drei Generationen erstreckende 500-Seiten-Roman lebt: von der Fremdheit, die zwischen denen herrscht, die sich doch bestens kennen müssten; und zugleich vom Versuch, diese Fremdheit irgendwann zu überwinden.

Schwer erkrankt liegt die Mutter ihrer Heldin danieder, der Krebs nimmt sich, was er sich nehmen will. Zugleich blüht die Mutter auf – und redet und redet und redet: von ihrer Kindheit, vom Leben der Großeltern, vom manisch tatkräftigen Großvater, der aus dem Kurzwarenladen seines Vaters erst eine „Butieke“ schmiedet, dann ein Modegeschäft.

Die Mutter erzählt von Großvaters „Kriesch“, der über die Elterngeneration noch in die Generation der Enkelkinder hineinwirkt, und wie die hektische Betriebsamkeit der so genannten Aufbaujahre bis in unsere Tage hineinreicht. Und je mehr die Mutter spricht, verrät und über sich preisgibt, desto schöner wird sie für die Tochter. Kann Literatur mehr erreichen?

1980 wird Sarah Stricker im pfälzischen Speyer geboren. Mit vier Jahren weiß sie bereits, dass sie Schriftstellerin werden will. Nach der Schule geht sie an die Journalistenschule in München, zieht schließlich nach Berlin, schreibt für die taz, für das Magazin Vanity Fair, ist für die Süddeutsche unterwegs, für Neon. An den Wochenenden und an manchen Abenden ringt sie mit ihrem Romanentwurf und lässt eines Tages die Mutter wie beiläufig folgenden Satz sagen: „Ich habe mich umgehört, Journalismus ist der beste Weg in die Schriftstellerei.“

Widersprechen möchte Sarah Stricker dem heute nicht: „Man muss dazu aber wissen, dass ich diesen Satz zu einem Zeitpunkt geschrieben habe, als ich noch keine Ahnung hatte, ob dieses Buch je gedruckt würde.“ Eine gewisse Hoffnung schwinge in diesem Satz vielleicht mit. Aber dran sei schon etwas: „Viele Journalisten entscheiden sich überhaupt erst für den Beruf, weil sie eigentlich von einer Karriere als Schriftsteller träumen – nicht davon, investigativen Journalismus zu betreiben. Und irgendwo muss man nun mal anfangen.“

Vor gut vier Jahren bringt ein Journalistenstipendium Sarah Stricker nach Israel. Bis heute ist sie dort geblieben, schreibt in Israel über Deutschland und berichtet zugleich für deutsche Zeitungen über das Geschehen in Israel. Und schreibt hier aus scheinbar großer Entfernung ihren Roman zu Ende.

Ein sehr deutscher Roman, denn so wie mit der Wende 1989 die deutsche Politik nach Berlin umzieht, ziehen auch Sarah Strickers so alltägliche Helden aus der pfälzischen Provinz in die neue Hauptstadt, wo die Mutter gegen jede Vernunft und gegen jede bisherige Lebenspraxis eine wahrhaft ungestüme Affäre mit Alex beginnt: einem Russen, der für ein so ganz anderes, ein so wenig diszipliniertes Leben steht.

„Fünf Kopeken“ ist endlich wieder ein Roman, in dem nicht junge Werber um den Sinn des Lebens ringen, dabei irgendwelche angeblich angesagte Musik hören und sich mit den Insignien der wankelmütigen Popkultur herumplagen müssen. Ein zeitloses, widerstandsfähiges Buch, das allen Zeitgeistströmungen trotzt und noch in Jahren seine Kraft entfalten wird.

In Israel sitzt Sarah Stricker längst an einem neuen, zweiten Stoff. In den nächsten Tagen aber ist sie erst mal wieder in Deutschland unterwegs: Jede Menge Interviewtermine warten auf sie, gleich zweimal ist sie auch in Hamburg zu Gast. Denn im dortigen Literaturhaus erhält Stricker am Donnerstagabend den renommierten Mara-Cassens-Preis.

Der 1970 gestiftete Preis ist mit 15.000 Euro nicht nur der deutschlandweit höchstdotierte Preis für ein literarisches Debüt und eröffnet alljährlich die neue Saison. Er ist auch der einzige mit einer ehrenamtlichen Jury, zusammengesetzt aus 15 Mitgliedern des Literaturhaus e. V., die sich als leidenschaftliche Literaturliebhaber den Romandebüts widmen.

17.000 Romanseiten, insgesamt 55 Debüts haben sie dieses Jahr gelesen. Sarah Stricker bescheinigt die Jury ein „schier unerschöpfliches kreatives Potenzial“, spielerisch beherrsche sie „eine Vielzahl an Sprachregistern“. „Schnodderig, spritzig, souverän“ sei der Roman: „Von dieser Autorin erwarten wir Großes.“

■ Sarah Stricker: Fünf Kopeken. Eichborn, 506 S., 19,99 Euro ■ Lesungen: Do, 9. 1., 19.30 Uhr. Literaturhaus (Vergabe des Mara-Cassens-Preises); Mi, 22. 1., 20 Uhr, Kulturhaus III&70