Zeit, dass sich was dreht

Rhönradturnen galt einst als Nazisport, dabei ist es eine anmutige und spektakuläre Nischensportart und Michelle Nowarra die größte Hoffnung der Rhönradgemeinde vom TSV Bayer Leverkusen

Wie eine Geldmünze kippt und schlingert das Rhönrad, bis es fast flach auf dem Boden liegt. Die Spirale ist die schwierigste Übung

AUS LEVERKUSEN LUTZ DEBUS

Alles dreht sich derzeit um Fußball. In der Kurt-Rieß-Halle in Leverkusen dreht sich Michelle Nowarra um sich selbst. Vor einer Woche wurde die 13-jährige vom TSV Bayer groß gefeiert. Da wurde sie deutsche Schülermeisterin im Rhönradturnen. Doch jetzt herrscht bei der Nachwuchshoffnung wieder Sportleralltag.

An der Seite der Bayer-Turnhalle stehen an die dreißig unterschiedliche Rhönräder. Das kleinste ist für Fünfjährige, das größte misst im Durchmesser fast zweieinhalb Meter. Die RhönradlerInnen erkennt man auf den ersten Blick: Um in die Bindungen zu passen, schnüren sie sich die Schuhe verkehrt herum zu.

Mit Schleife an ihrer Fußspitze steigt Michelle Nowarra in ein Rad. Nur bei den ersten Umdrehungen steht sie in den Schlaufen. Dann springt sie von Sprosse zu Sprosse. Turnt an den Eisenstangen, die die beiden Räder verbinden, wie an einem Reck. Der Abstand zwischen Füßen, ihrem unbehelmten Kopf und dem haarscharf vorbeirasenden Boden ist kaum zu erkennen. Nach Überschlägen und Handstand kommt ihr Absprung. Das Rad kullert weiter, doch Michelle Nowarra steht aufrecht mit weit geöffneten Armen auf dem Hallenboden und lächelt. Mit dieser Übung siegte sie bei der Schüler- und Jugendmeisterschaft.

Bereits mit vier Jahren begann Michelles sportliche Laufbahn als Rhönradturnerin. Die Mutter brachte sie mit einem Ballettröckchen zum Training und Michelle war sofort begeistert: „Das ist vielleicht so eine Art Familienkrankheit“, glaubt sie – auch die große Schwester turnte im Rhönrad. Vier Mal in der Woche trainiert die Gesamtschülerin beim TSV. Eine Einheit dauert zwei bis drei Stunden. Im Jahr nimmt sie an sechs bis acht nationalen Wettkämpfen teil. Für andere Hobbies bleibt wenig Zeit.

Aber es gibt einige Rhönradverrückte wie sie. Auch die ehemalige Deutsche Meisterin Ines Meurer ist so eine. Inzwischen ist sie ehrenamtlich tätig als Trainerin in Leverkusen. Meurer weiß von einer Holländerin, die drei Mal in der Woche eine dreistündige Autofahrt nach Leverkusen in Kauf nimmt, nur um zu trainieren. Und der amtierende Weltmeister Julius Petri habe im vergangenen Jahr – da studierte er noch in Köln – extra beim TSV seine Runden gedreht. In Leverkusen gebe es, so Ines Meurer, eben gute Trainingsbedingungen.

Meurer ist vom Kunstturnen zum Rad gekommen. Mit ihrer turnerischen Grundausbildung konnte sie sich rasch entwickeln. Auch Michelle Nowarra habe großes Talent. Wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird und sie sich sportlich qualifiziere, könne Michelle als Schülermeisterin im kommenden Jahr sogar an den Jugendweltmeisterschaften in Salzburg teilnehmen.

Die Dreizehnjährige an der Rhönradweltspitze? Michelle Nowarra zuckt mit den Schultern. Bis vor kurzem habe sie noch unter ihren schwachen Nerven gelitten. Vor jedem Wettkampf habe sie gezittert und geweint. Doch am vergangenen Wochenende habe sie überhaupt kein Lampenfieber mehr gehabt. „Michelle ist durch das Rhönrad reifer geworden“, glaubt auch Trainerin Meurer – Erfolg schaffe Selbstbewusstsein.

Der Sieg der jungen Leverkusenerin wurde dann wie bei einem Formel-I-Rennen gefeiert, aber natürlich jugendfrei mit Mineralwasser. Etwas nüchtern fiel auch die Atmosphäre unter den etwa 150 Zuschauern beim Wettkampf aus. Denn anders als bei den Erwachsenen wird bei Jugendmeisterschaften nicht zu Musik gerollt. Der Verband glaubt, das die Festlegung in rhythmische Abläufe den Nachwuchs überfordern würde. Die Ästhetik der Radartistik kommt auch ohne Beschallung zur Geltung.

„Es geht immer um Schönheit“, schwärmt Trainerin Meurer. Tatsächlich sind die Grenzen zum Varieté fließend. Manche RhönradlerInnen verdingen sich als EventkünstlerInnen auf Betriebsversammlungen oder als ZirkusartistInnen. Und auch im Vereinsleben sind die Rhönräder begehrte Attraktionen. Michelle Nowarra und ihre Freundinnen spielten bei einer Weihnachtsfeier „Schneewittchen“. Sieben kleine Zwergenräder und ein Riesenrhönrad mit einem Spiegel waren bei der Aufführung dabei.

Auch Ines Meurer war nicht nur sportlich mit ihrem Rad unterwegs. Als Jugendliche verdiente sie sich auf Straßen und Plätzen etwas Geld dazu. Vor der Gedächtniskirche in Berlin oder auf der Domplatte in Köln führte sie ihre Kunststücke vor. Der umher gehende Hut war nach einer Darbietung immer gut gefüllt.

Allerdings hörte sie damals vor 25 Jahren auch manche kritischen Töne von PassantInnen: „Wie könnt ihr das machen?“ Manch älterer Zuschauer erinnerten die Räder an Berlin 1936 und an die Inszenierung des athletischen Herrenmenschens bei der Olympiade. Damals wurde der Geräteturnsport das erste Mal einer größeren Öffentlichkeit vorgeführt. Und seither hat das Sprossenrad den Ruf als Nazi-Sportgerät weg. Doch seit einigen Jahren, so Ines Meurer, sei ihr der Vorwurf nicht mehr begegnet.

Andere Kritikpunkte, die gegenüber dem Leistungssport immer erhoben werden, etwa das Doping, lässt Meurer sowieso nicht gelten: Das Rhönradturnen sei für derartige Auswüchse nicht populär genug. Weil in ihrer Disziplin wenig Geld im Spiel sei, weil die finanzielle Förderung durch große Konzerne fehle, werde auch nicht gedopt: „Unser Doping besteht aus Apfelschorle und Bananen!“

Dabei, sagt die 38-jährige verschmitzt, würde sich die Kreisform ihres Sportgerätes doch eigentlich als Werbeträger für so manche bekannte Marke anbieten. Ein menschlicher Mercedesstern? Selbst der Hauptsponsor ihres Turnvereins sei nicht auf die Idee gekommen– auch das Firmenlogo von Bayer erinnert frappierend an die Form eines Rhönrades.

Michelle Nowarra ist inzwischen bei einer besonders schwierigen Übung angelangt, der Spirale. Wie eine Geldmünze kippt und schlingert das Rad, bis es fast flach auf dem Boden liegt. Ohne dass sich die Turnerin merklich anstrengen muss, gewinnt das Sportgerät wieder an Höhe. Noch ein paar Drehungen und das Rhönrad steht wieder. Die Deutsche Schülermeisterin schnallt sich ab. Trainingsende. Draußen vor der Halle warten schon die Väter. Aus ihren Autoradios tönt die Übertragung eines Fußballspiels.