Er liebt sie halt

JUGEND Karolin hat Geldsorgen und nimmt Drogen. Aber was kann Rudolf machen? Sie ist dreißig und meldet sich nicht. Wie soll er sie da erziehen

Ab wann musste man das so deutlich sagen? Du bist meine Tochter. Aber das geht so nicht

VON SASKIA HÖDL

Rudolf erinnert sich, wie er neben seiner Tochter durch den Supermarkt geht. Er weiß nicht, was er falsch gemacht hat. Sie packt Chips, Energydrinks und Mikrowellengerichte in den Einkaufswagen. Kein Gemüse, kein Obst. Er denkt an seine Enkelkinder und will etwas sagen. Er sagt nichts. Karolin ist fast dreißig, wie soll er sie noch erziehen. Er schnauft nicht, er rollt nicht mit den Augen. Er zahlt.

Er fragt sich, wann er zum ersten Mal gemerkt hat, dass etwas anders lief, als es vermutlich sollte. Vielleicht der Anruf aus der Schule. Einem Mädchen wurde die Brille gestohlen. Sie wurde bei Karolin gefunden. Ein paar Monate später wurde dem Nachbarssohn der Walkman geklaut – und in Karolins Zimmer gefunden. Sie war damals etwa sechs.

Sie war etwa zwölf, als hundert Mark aus dem Portemonnaie der Großmutter verschwanden. Er verstand, dass seine Tochter ein Problem hatte. Dass sie alle eines hatten. Wenn er seinen Geldbeutel verlegt hatte, dachte er, Karolin hätte ihn genommen. Wenn er ihn dann fand, hatte er ein schlechtes Gewissen. Aber was sollte er tun?

Was hätte er tun sollen?

Rudolf heißt anders, seine Tochter auch, ihre Mutter auch. Er will erzählen, aber nichts aufwühlen. Als er von Margots Schwangerschaft erfuhr, waren die beiden ja gerade mal zwanzig. So jung. Der nächste Gedanke: Wir müssen heiraten. Bei Karolins Geburt war er dabei. Kam direkt von der Arbeit, stand im braunen Anzug im Kreissaal, in den Augen Tränen.

Drei Jahre später war die Scheidung. Sie waren einfach nicht füreinander gemacht. Karolin sah er nur noch jedes zweite Wochenende. Zehn Jahre später wäre ein gemeinsames Sorgerecht vielleicht möglich gewesen, aber damals schien es sinnlos, nur daran zu denken. Wenn Karolin eigentlich bei ihm sein sollte, gab er sie oft zu seiner Mutter. Er hatte andere Dinge im Kopf, Samstagabend wollte er seine Freunde sehen.

Er fragt sich, ob es daran liegt, dass sie Einzelkind ist. Zwei Mütter, zwei Väter, vier Paar Großeltern. Margot wechselte ihre Partner alle zwei Jahre. Aber eigentlich waren alle zufrieden. Oder?

Dann die Pubertät. Karolin klaute weiter, wurde wütend oder still, wenn er sie drauf ansprach. Er ging mit ihr zum Therapeuten. Zwei Sitzungen, dann hatte sie keine Lust mehr. Sie fand, die anderen seien schuld. Kleptomanie, fand Rudolf. Margot aber tat die Sache ab, dumme Fehlgriffe, mehr nicht.

Karolin lebte da bei Margot und ihrem Partner und lief oft davon. Manchmal kam sie erst nach Tagen zurück. Rudolf machte sich Sorgen. Sie könne mit Problemen doch immer zu ihm kommen! Sie kam nicht.

Hatte er etwas falsch gemacht? Oder sie?

Ab wann musste man das so deutlich sagen? Du bist meine Tochter. Aber das geht so nicht.

Die angespannteste Zeit seines Lebens sei das gewesen, als sie bei ihm lebte. Ständig gab es Ärger, die Polizei war regelmäßiger Besucher. Mit sechzehn übernachtete sie oft bei ihrem Freund. Als sie irgendwann gar nicht mehr nach Hause kam, telefonierte er mit dessen Eltern. Sie sagten, Karolin sei eine Bereicherung, ihr Junge würde sich viel besser benehmen, seit sie mit ihm Zeit verbringe. Es störte die Eltern nicht, dass sie schon wochenlang bei ihnen wohnte, sie boten an, sich weiter um Karolin zu kümmern. Rudolf zögerte, willigte aber ein. Die Tage danach fühlte er sich schlecht, denn es ging ihm gut: Er war erleichtert. So viel Ruhe.

Mit siebzehn wurde Karolin schwanger und bekam eine Tochter. Meist war Margot bei dem Kind, als Karolin eine Ausbildung machte. Sie war fast fertig, als sie den Eltern erzählte, dass sie abbrechen würde. Die Chefin hätte verlangt, dass sie auch beim Putzen hilft. Er flehte sie an, nur noch das letzte halbe Jahr durchzuhalten. Kurz darauf wurde ihr gekündigt. Sie hatte Geld aus der Kasse gestohlen.

Er fragt sich, ob er sie zu sehr verwöhnt hat. Jeden kleinen Job gibt sie auf. Als Rudolf vor einigen Jahren für ihren Kredit bürgen sollte, wollte er nicht. Aber Margot unterschrieb. Heute hat Karolin Schulden im hohen fünfstelligen Bereich.

Der Schuldenberater hat ihm geraten, sie bei der Rückzahlung nicht zu unterstützen. Sie würde nur neue Schulden machen, sollte man ihr die aktuellen abnehmen. Er hält sich daran, weiß aber, dass seine Mutter manchmal die Kreditraten bezahlt. Karolin hat vor einiger Zeit angefangen, Drogen zu nehmen. Sie sagt, sie hat es im Griff.

Rudolf beschreibt seine Tochter als sehr sozialen Menschen und liebevolle Mutter. Aber sie sei unsicher, es fehle ihr an Selbstreflexion. Einmal habe sie bei ihm gesessen und sich darüber lustig gemacht, dass eine Bekannte mit 17 schwanger geworden war.

Am Ende seiner Therapiestunden stand die Erkenntnis, dass die gestohlene Brille ein Hilfeschrei gewesen sein könnte, nach Aufmerksamkeit. Karolin empfindet eine schlechte Kindheit als Grund für ihre Fehler. Das sei ein Grund, sagt Rudolfs Therapeut. Aber keine Ausrede für das ganze Leben.

Rudolf glaubt, er hätte mehr durchgreifen müssen. Und dass Margot sie mehr als Kind hätte behandeln müssen, weniger als Freundin. Sie habe ihr immer alles erlaubt. Er sagt, er hätte mit ihren Problemen abgeschlossen. Ein Selbstschutz, sagt er, über Jahre etabliert. Böse ist er Karolin nicht. Er findet auch nicht, dass es etwas zu verzeihen gibt.

Ob sie ihm verzeihen kann, weiß er nicht. Sie war so oft sauer auf ihn. Meistens wegen Geld, das er ihr nicht geben wollte. Er fragt sich, wann sich ihre Beziehung auf einer finanziellen Ebene festgesetzt hat. Aber es sei eben die einzige Ebene, die sie haben. Er liebt sie halt, darum gibt er meistens auch nach und leiht ihr dann doch Geld.

Vor einem Jahr hat Karolin einen Sohn auf die Welt gebracht. Rudolf hat sie seitdem nicht gesehen und auch nicht mit ihr gesprochen. Er vermisst sie und seine Enkel, er hat etwas Sorge, dass sich die Geschichte hier wiederholt, deshalb hält er sich bei den Geschenken für die Kleinen zurück. Karolin hat eine neue Telefonnummer, die er nicht kennt.

Aber selbst wenn er sie hätte, er würde nicht anrufen. Was sollte er schon sagen? Warum verstehe ich dich nicht? Liegt es an mir?

In ein paar Wochen ist ein Familientreffen geplant. Rudolf freut sich darauf, Karolin zu sehen. Egal, was sie sagt oder tut: Er wird sie nicht belehren. Er wird nicht schnaufen, er wird nicht mit den Augen rollen. Das nimmt er sich fest vor.