MEINE WM – EINE ERSCHÜTTERNDE ZWISCHENBILANZ
: Müll in der Wohnung, Hupkonzert im Kopf

LIEBLING DER MASSEN

13. Juni

Um beim Arbeiten die WM gucken zu können, habe ich eigens einen Fernseher auf den Schreibtisch gestellt. Die ersten Spiele sind extrem langweilig. Wiederholt winden sich Spieler in Krämpfen auf dem Rasen, die Kiefermuskulatur durch andauerndes Gähnen überstrapaziert. Torhüter haben sich aus den Tornetzen Hängematten gebastelt. Alle Spieler aber haben Mannschaftskameraden, sogar die Franzosen. Nur ich bin allein, hier vor dem Fernseher.

17. Juni

Bereits im Verlauf der Vorrunde beginne ich, komplett zu verblöden, ab und zu schreie ich „Tor“, obwohl nie eines fällt. Längst schreibe ich nichts mehr. Stattdessen surfe ich parallel zum Fußball im Internet: Youporn, Bild-Online, Teletubbys. Ich verwahrlose seelisch und intellektuell. Selbst wenn ich mich vom Fernseher entferne, um ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen, foulen sich in meinem Hirn winzigkleine Nationalspieler bis zum endgültigen Null-zu-null. Null zu null steht es mittlerweile auch in meinem Liebesleben und auf meinem Konto – null zu null gegen mich. Einsamkeit. Viel Bier.

19. Juni

Manchmal gucke ich auch mit anderen Menschen zusammen. Dann sind wir zusammen einsam. Die kollektive Verschwendung an Zeit und Energie stimmt mich über die Maßen traurig. Mit genügend Bier geht es mir besser, doch leider kann ich am nächsten Tag nicht arbeiten. Schwere Selbstvorwürfe, die erst nachlassen, wenn um 13 Uhr 30 endlich das Mittagsspiel beginnt. Allerdings weiß ich im Grunde, dass ich mich damit selbst betrüge. Nicht zuletzt deshalb später wieder Bier. Die Fifa und das ZDF haben mir mein Leben gestohlen. Molwanien gegen Papagay. Null zu null, trotz zahlloser Torwart- und Schiedsrichterfehler. Neun gelbe Karten. Hupkonzerte auf der Straße. Warum? Am nächsten Vormittag erneut Depressionen.

20. Juni

Ich versuche es noch einmal mit dem sogenannten Public Viewing. In der Strandbar Pipi Bloedfeld zeigen sie auf einer Riesenleinwand Brutalien gegen Arschreich. Es ist kaum ein Platz zu ergattern, obwohl das Match sichtlich keinen dieser Halbmündigen interessiert. Alle twittern, kiffen und knutschen, oft mit dem Rücken zur Leinwand. Sie halten das wohl für eine Art Flashmob. Steht einer stundenlang im Sichtfeld herum, stört es keinen. Früher wäre man dafür von der Menge in Stücke gerissen worden. Beim Abpfiff bricht am Strand der Ahnungslosen sinnloser Jubel aus. Null zu null. Elf gelbe Karten. Ein heftiges Gewitter schwemmt endlich den Dreck von der Straße.

23. Juni

Das Abendspiel beschließe ich bei meiner Freundin zu gucken, damit wir uns mal wieder sehen, auch weil sie einen riesigen Fernseher besitzt. Freie Republik Militärdiktatur gegen Demokratische Militärdiktatur Freilandhaltung – ein hochinteressantes Nachbarschaftsduell! Es wird ein Null-zu-null der spannenden Sorte. Zwei Nackte rennen übers Spielfeld, um Delfine zu retten, dazu gibt es dreizehn gelbe Karten. Vor Aufregung trinke ich innerhalb einer Halbzeit drei Weizen und rülpse laut. Die Freundin blickt angewidert vom Balkon herein, auf dem sie mit Buch und Apfelschorle sitzt. Ich fühle mich im Stich gelassen und kann mir nicht erklären, wie es mit uns so weit kommen konnte. Hupkonzerte in meinem Kopf.

27. Juni

Zwischen zwei Spielen gehe ich vor die Tür, obwohl mir das Draußen nur noch höllische Angst bereitet. Ohne den Fernsehfußball als strukturierendes Gerüst fühle ich mich, als sei ich auf einer Weltraummission ohne Kleidung, Schlüssel, Geld und Rückfahrkarte ins unendliche, dunkle All geschubst worden. Im Parkcafé treffe ich eine Bekannte und klage ihr mein Leid: dass ich nur noch Fußball sehe. Dass ich immer mehr Bier trinke, dabei und danach. Dass ich zusehends dümmer werde. Dass ich nichts mehr schreiben könne. Und dass mich am nächsten Tag stets tiefe Niedergeschlagenheit befalle. Sie habe auch mal so jemand gekannt, sagt die Bekannte, steht auf und geht. Ich fühle mich einsam. Schnell gehe ich heim und sehe Fußball. Barbara gegen Transsinistrien. Null zu null. Fünfzehn gelbe Karten, zwei davon Joker. Die Gardinen sind zugezogen, in meiner Wohnung schwelen Müllhaufen. Hupkonzerte im Kühlschrank. Zwei Wochen muss ich noch überstehen, wenn ich sie denn überlebe.