90 MINUTEN … IN DER ST.-PAULI-KIRCHE HAMBURG

Public Viewing vor dem Altar. Die Zehn Gebote an der Wand. Eines: „Hauerei geht gar nicht!“

Es wird viel geschlafen an diesem Sonntagnachmittag. In der prallen Sonne am Boden vor der S-Bahn-Haltestelle „Reeperbahn“ zum Beispiel, in voller Montur mit Hund und Decke. Oder ein paar Meter weiter komatös auf einer Parkbank. Es muss das drückend schwüle Wetter sein, aber nicht nur: Der Kater des Deutschlandsieges gegen Schweden ist frisch, und es gibt diesen süßlichen Reeperbahn-Geruch nach den wirklich langen Nächten, wenn die Kneipen auslüften und sich die leeren Bierkisten in den Hinterhöfen stapeln.

Der Reeperbahn-Duft ist noch präsent, wenn man zur unmittelbar benachbarten St.-Pauli-Kirche geht. Und schließlich vor einem Kirchenzaun mit einem Verbotsschild steht: Kein Alkohol, kein Nikotin. Als Gegenleistung gibt’s dafür Fußball auf einer Großleinwand in der Kirche. Kostenlos, speziell gedacht für Kinder und Jugendliche. Und schmissig verkauft unter dem Motto „Balleluja“.

Es ist angenehm kühl in der Kirche, die sandfarbenen Wände wirken freundlich-gedämpft und die Kirchenfenster sind verdunkelt mit den Fahnen der WM-Teilnehmerländer. Die übliche Bestuhlung wurde herausgeräumt, statt dessen wurden rund 30 Second-Hand-Sofas und Sessel auf die dunkelgrauen Holzdielen gestellt. Ausgerichtet sind die Sofas auf den Altar hin, nur dass dieser nicht zu sehen ist: Die Großbildleinwand steht direkt davor, seitlich verlängert mit blauen WM-Fahnen des Hamburger Fanbüros, unterhalb zugestellt mit faltbaren Sitzkartons, die vergangenes Jahr noch beim Evangelischen Kirchentag in Hannovers Messehallen standen. „Balleluja“ steht auf einem Banner unter der Leinwand, ebenso wie auf den roten Trainingsjacken und den T-Shirts der Helfer und Organisatoren. Draußen spielt eine Sambaband und die Kiezkids kicken, an Tippkicktischen oder mit Ball und Toren wie die Großen.

Es ist eine Art Sommerfest, die Fußballübertragung ist dabei nur ein Programmpunkt, der mit dem Anpfiff beginnt, in der Pause unterbrochen wird und mit dem Abpfiff endet. Alle Sofas sind besetzt, aber es sind an diesem Sonntag weniger die Jugendlichen, sondern die jungen Eltern und kinderlosen Pärchen, die es sich bequem gemacht haben. „Unsere 10 Gebote“ stehen auf einem Plakat an der Wand: „Hauerei geht gar nicht!“ ist eines davon. „Feuert euere Mannschaft an! Seid laut“ ein anderes. Was den Kindern bei Ecuador – England eher schwer fällt. „Ich bin für England“, sagt ein Zehnjähriger in Armyhosen. „Aber auch ein bisschen für Ecuador.“

Kontroversen hat das Public Viewing in der Kirche in Hamburg kaum ausgelöst. Ob die Kirche nicht ihre Identität preisgibt, wenn die Leinwand vor dem Altar steht? „Wir machen ein Programm für Kinder- und Jugendliche in unserem Stadtteil, und in dem gibt es eine hohe Aggression“, sagt Pastor Sieghard Wilm. „Was wir versuchen ist, an dieser Stelle gegenzusteuern durch einen geschützten Raum.“

Dass die „10 Gebote“ eingehalten werden, darauf achten Jugendliche der Gemeinde, die zuvor ein Antigewalttraining absolviert haben. Viel zu tun gibt es an diesem Nachmittag nicht: Englands Sieg wird zur Kenntnis genommen. Ganz nüchtern. Auf der Empore direkt gegenüber der Leinwand hängt das Kruzifix, aber der Blick von Jesus geht an der Leinwand vorbei. Er schaut seitlich nach unten auf eines der kleinen Verbotsschilder, die an den schlichten Säulen hängen: Handys sind nicht erlaubt. Und Big Macs auch nicht.

KLAUS IRLER