Der Punkt ist nur Mittel

KUNSTSTIFTUNG Die Fondation Pierre Arnaud in Lens will die Kunst des Wallis im Kontext der europäischen Kunst vorstellen

VON BRIGITTE WERNEBURG

Mit klobigen Pinselstrichen setzt Giovanni Giacometti die Farben nebeneinander. Paradoxerweise zeigt sich just in der flachen, tendenziell zweidimensionalen Farbigkeit seines Gemäldes, dass seine grün, rot, blau gescheckte Alm hoch oben in den Bergen liegen muss. Denn das Blau-Rot des verschatteten Gipfels im Hintergrund gibt es nur in großer Höhe.

Das lässt sich von dort aus überprüfen, wo Giacomettis „Sera sull’alpe“ (1908) derzeit zu sehen ist, im neuen Ausstellungshaus der Fondation Pierre Arnaud. Der schlichte, lichttechnisch raffinierte Spiegelglaskubus steht am Ufer des kleinen Lac du Louché im Walliser Bergdorf Lens in rund 1.300 Meter Höhe. Bislang ist der Ort, der zum Hochplateau von Crans-Montana gehört, vor allem über das Werk des Schriftstellers Charles-Ferdinand Ramuz bekannt. Aber nun hat es sich die Fondation Pierre Arnaud hier zur Aufgabe gemacht, die künstlerische Praxis des 19. und 20. Jahrhunderts im Wallis und der Schweiz in einen umfassenderen, europäischen Kontext zu stellen.

Paradies Wallis

Das Projekt wurde von seinen Initiatoren, dem Unternehmer Daniel Salzmann und seiner Frau Sylvie Arnaud, nach deren Vater benannt. Als der in Marseille gebürtige Schiffsausrüster aus Marokko das Wallis entdeckte und Anfang der 1990er Jahre ganz nach Crans-Montana zog, begann er die Künstler der „Ecole de Savièse“ zu sammeln. Die Mitglieder einer um 1900 existenten Künstlerkolonie fanden im Wallis ein verloren geglaubtes Paradies wieder beziehungsweise erfanden es wieder. Ihre Arbeiten bildeten den Grundstock einer kleinen Kunstsammlung, die die Tochter und der Schwiegersohn nach seinem Tod 1996 ständig erweiterten und die schließlich den Anstoß zur Stiftung gab.

Auf 900 Quadratmetern, verteilt über zwei Ebenen, eröffnet nun die Ausstellung „Beherrschte Farbe? Ungebändigte Farbe!“ eine Serie von Ausstellungen, die im Winter die Kunst der Schweiz zwischen 1850 und 1950 im Rahmen der großen internationalen Kunstströmungen wie Divisionismus, Realismus oder Expressionismus verorten will. Im Sommer sollen moderne Kunst oder auch zeitgenössische Strömungen mit außereuropäischer oder antiker Kunst konfrontiert werden, etwa Surrealismus und primitive, also frühe Kunst. 70.000 Besucher will das Zentrum im Jahr anlocken, ein ehrgeiziges Ziel. Doch es braucht so viele Interessenten – und dazu auch Sponsoren –, damit die Betriebskosten von jährlich 5 Millionen Franken gedeckt sind.

Sollte das nicht gelingen, befürchten andere Walliser Kultureinrichtungen, dass die Stiftung kantonale Kulturfördergelder beantragen könnte. An der Qualität der jetzt eröffneten Schau läge es nicht, sollte es so kommen. Mit „Beherrschte Farbe? Ungebändigte Farbe!“ lässt sich die Arbeit der Fondation vielversprechend an. Es geht dabei, wie der Wissenschaftliche Direktor der Stiftung, Christophe Flubacher, im Katalog sagt, um das „Abenteuer des Divisionismus“ – was zumindest für den Besucher aus Deutschland, wo der Begriff im Kunstdiskurs so gut wie keine Rolle spielt, einigermaßen exotisch klingt.

Malerei revolutionieren

Erstmals brachte George Seurat (1859–1891), der seine Malerei aufgrund intensiver Studien der moderneren Farbtheorien auf wissenschaftliche Basis stellen wollte, den Begriff ins Spiel. Nach seinem frühen Tod verteidigte Paul Signac (1863–1935) den Sprachgebrauch gegen die synonym verwendeten Begriffe des Neoimpressionismus und Pointillismus. Das „mediokre Procedere des Punktes“, erklärt er in seiner Schrift „D’Eugène Delacroix au néo-impressionnisme“, „hat nichts gemein mit der Ästhetik der Maler, für die wir hier eintreten, noch mit der Technik der Division, die sie anwenden. Der Neo-Impressionismus pointilliert nicht, sondern er dividiert.“ Und revolutioniert die Malerei. So der Anspruch.

Die Künstler aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Deutschland, der Schweiz, im Besonderen dem Wallis, und Italien, die die Schau nun erstmals zusammenführt, rühren die Farbpigmente also nicht additiv zusammen, sondern setzen sie – unberührt in ihrer Integrität – Punkt für Punkt oder Strich für Strich, Linie für Linie auf der Leinwand nebeneinander. Die Mischung vollzieht sich dann im Auge des Betrachters. Tatsächlich ist „Beherrschte Farbe? Ungebändigte Farbe!“ weder strikt neoimpressionistisch (in Italien wird Seurat erst Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt) noch restlos pointillistisch, sondern zeigt vielmehr ganz verschiedene Weisen des Farbauftrags.

Mehr Striche als Punkte

Das ist besonders bei den Italienern zu beobachten, die mit 27 von insgesamt rund 100 Arbeiten in der Ausstellung stark vertreten sind. Mit Seurat nicht vertraut, selbst seiner Ikone des Pointillismus „Sommernachmittag auf der Insel La Grande Jatte“ (1884) nicht, sind sie erst einmal nur theoretisch informiert. Auf der Basis der Farblehre des US-amerikanischen Physikers Odgen Nicholas Rood, aber auch des französischen Chemikers Eugène Chevreul, kommen sie ganz eigenständig zu einer eigenen Form des Divisionismus. Dabei operieren sie mehr mit Strichen als Punkten. Das gilt für die späteren Futuristen Giacomo Balla und Umberto Boccioni, die in ihren divisionistischen Anfängen zu sehen sind, genauso wie für Giovanni Segantini, der erst 1886 mit dem getrennten Farbauftrag arbeitet, nach seiner Übersiedlung ins Engadin.

Obwohl der Divisionismus das Konstruierte der Malerei betont und damit in scharfem Gegensatz zum Impressionismus steht, der das Wahrgenommene unmittelbar auf die Leinwand zu bannen sucht, liebt auch diese wissenschaftliche Malerei die Landschaft und ihre Stimmungen. Quasi aus dem Augenwinkel heraus erkennt man auch beim ersten Rundgang das flache belgische Land bei Alfred William Finch, die französische Atlantikküste bei Willy Schlobach oder die Graubündener Alpen bei Giovanni Giacometti oder Giovanni Segantini. So abstrakt und kühl hingetupft Finchs Heuhaufen sind, so genau ist doch die spezifische Landschaft eingefangen. Und während Henri-Edmond Cross „Paysage aux chèvres“ (1895) mit Bäumen prunkt, die ihre Äste jugendstilartig recken, breitet Oskar Lüthy dem hoch im gleißenden Sonnenlicht aufragendes Bergpanorama seines „Requiem in den Alpen“ (1909) das große Format existenzieller Verlorenheit und Einsamkeit aus. Dagegen hilft dann nur der Besuch von Cuno Amiets freundlich-baumumstandenen „Wirtshaus in Oschwand“ (1906).

Während Amiet neben Hodler und Giacometti zu den maßgeblichen Wegbereitern der modernen Kunst in der Schweiz zählt, sind viele der in der Ausstellung vertretenen Künstler nicht so bekannt. Gerade das aber macht den großen Reiz der Schau aus. Denn sie zeigt den künstlerischen Reichtum und die hohe Qualität, die noch zu entdecken sind, schaut man nicht nur auf die großen Namen. Es schadet der Ausstellung also nicht, dass Seurat und Signac nur mit wenigen, kleineren Arbeiten vertreten sind und der Pissaro der pointillistischen Phase ganz fehlt. Dafür wird man mit der ihnen eng verbundenen belgischen Société des XX und ihren Künstlern bekannt gemacht, der Voraussetzung für Brüssels Rolle als avantgardistisches Sprungbrett zukünftiger Strömungen der modernen Malerei wie Synthetismus, Fauvismus, Kubismus und Konstruktivismus.

Sehr schön ist auch das „Nackte Mädchen mit Zweigschatten“ (1905), der krasse divisionistische Kirchner, den die Ausstellungsmacher gefunden haben. Das sollte ein gutes Omen sein. Denn beim Kirchner Museum, gleich um die Ecke quasi, in Davos, fällt einem dabei ein, funktioniert die Privatstiftung.

■ Bis 22. April, Fondation Pierre Arnaud, Lens, Katalog (Hatje Cantz) 38 Euro