Ihrer Zeit weit voraus

KUNST Anita Rée zählt zu Hamburgs großen Malerinnen. Die Edition Braus widmet ihr eine Biografie

Am 12. Dezember 1933 nahm sich die Malerin Anita Rée auf Sylt das Leben. „Jetzt leben wir nicht mehr im Zeitalter der Qualität und der Fähigkeit, sondern in dem der (jüdischen) Großmutter“, hatte sie Anfang des Monats ihrer Geliebten Fridjof in die Schweiz geschrieben. Rée hatte mehr als nur eine jüdische Großmutter. Dass dazu noch große künstlerische Fähigkeiten und die hohe Qualität ihrer Arbeit kamen, das war zusammen dann Grund genug zur Depression – und wie Anita Rée dann leider meinte, auch zum Suizid.

„Der Zeit voraus“ heißt es im Untertitel der von Annegret Ehrhard klug, elegant und einsichtsvoll formulierten wie recherchierten Biografie über „eine Hamburger Künstlerin der 20er Jahre“. Das ist zwar auf ihre künstlerische Zielsetzung hin gemeint, doch Rée war dieses Mal auch in ihrem gesellschaftspolitischen Gespür ihrer Zeit voraus. Sie musste nicht bis 1938 warten, um zu wissen, dass ihre Karriere als Malerin mit der Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 zu Ende gegangen war.

Unterhalb des Radars

Der Band der Münchner Kunstjournalistin ist der dritte in einer neuen Biografienreihe der Edition Braus mit dem Titel „Seitenwege in der Kunst“, die Lebensläufe betrachtet, die unter dem Radar des kunstwissenschaftlichen Mainstreamwissens hinweg laufen, deren kunsthistorische Relevanz und besonderer zeitgenössischer Glanz gleichwohl aller Aufmerksamkeit wert sind.

Hilla von Rebay, die Ideengeberin und Mitbegründerin des Guggenheim Museums in New York, Lesser Ury, der erste deutsche Impressionist und demnächst der geniale erste Modefotograf Adolphe Baron de Meyer sind die Protagonisten der von Boris von Brauchitsch initiierten Reihe.

Dass Anita Rée die Schärfe und Radikalität der nationalsozialistischen Rassenpolitik vorausahnte, heißt nicht, dass sie ein politischer Mensch war. Das war sie so wenig, wie sie eine Kämpferin für die Sache der Frau war. Dem bekannten Widerstand gegen eine Kunstkarriere wich sie, deren Eltern sie gerne gutbürgerlich verheiratet gesehen hätten, eher aus, als dass sie dagegen aufbegehrte. Letztlich verfolgte auch sie ein solches Lebenskonzept, wie es konventioneller nicht denkbar ist – freilich sah sie dabei ihre Hingabe an die Malerei nicht als Interimsbeschäftigung bis zum ersten Kind.

Nach Mal- und Zeichenunterricht in der heimatlichen Hansestadt studierte sie während eines Parisaufenthalts 1912/13 bei Ferdinand Léger. Nach Hamburg zurückgekehrt, machte sie sich zunächst als stupende Porträtmalerin einen Namen und war Mitbegründerin der Sezession, bevor sie in den 1920er Jahren – vor allem nach einem rund dreijährigen Italienaufenthalt – zu einem neusachlichen Stil ganz eigener Prägung fand.

Ihre stillen, magischen Stadtlandschaften und exotisch-melancholischen Selbstporträts wie dem „Halbakt vor Feigenkaktus“, gemalt mit fast altmeisterlichen, feinem Pinselstrich, faszinieren noch heute, etwa die kleine „Teresina“ in der Hamburger Kunsthalle, die mit ihren drei Zitronen im Schoß, in einem Blätterdschungel sitzt, der von Henri Rousseau sein könnte.

Zunehmend wurde Hamburgs bedeutendste Avantgardistin mit monumentalen Wandarbeiten beauftragt, doch beim Altarbild für St. Ansgar sah sie sich schon 1930 massiven Diffamierungen von Seiten der Hamburger Nazis ausgesetzt. Damit konnte die von Depressionen geplagte Künstlerin, die zeitlebens zwischen maßlosen Selbstzweifeln, übergroßen Ansprüchen, zwischen Scheu und Arroganz schwankte, kaum umgehen. Auch der Weg nach Sylt brachte nicht die Rettung.

BRIGITTE WERNEBURG

■ Annegret Erhard: „Anita Rée. Der Zeit voraus. Eine Hamburger Künstlerin der 20er Jahre“. Edition Braus, Berlin 2013, 110 Seiten, 30 Abbildungen, 24,95 Euro