„Wir machen das jetzt so“

NEUES LERNEN Es geht auch ohne Frontalunterricht: Eine Elterninitiative hält an Hamburger Schulen Workshops über neue Lernformen ab. Dort kann man im Detail erleben, wie die künftige Primarschule funktionieren soll

„Göttlich: Sagt ein Kind mit Förderschulempfehlung zu einem Kind mit Gymnasialempfehlung: Das hab ich dir doch schon gestern erklärt’“

LEHRERIN SABINE SCHILLER

VON KAIJA KUTTER

Eine „Meinungslinie“ zieht sich durch die Aula der Gesamtschule Blankenese. Wer meint, er wisse ganz wenig über neue Lernkultur, geht zum roten Schild. Wer schon viel weiß zum grünen Schild am anderen Ende. Es finden sich trotz heißen Sommerwetters über 30 Leute in der Aula ein. An den 15 im Saal aufgebauten Stationen wollen sie erfahren, wie selbstbestimmtes Lernen funktioniert. Vater Thomas Klassen und die Lehrerin Christine Kaube drücken jedem dafür einen Laufzettel in die Hand.

Klassen hat seinen Sohn in der „Biberklasse“ der Clara-Grunwald-Reformschule. Er ist aber auch Professor an der Helmut-Schmidt-Universität, die im ersten Studienjahr bei den Ingenieuren eine Abbrecherquote „von fast 50 Prozent“ habe. Das liege auch daran, dass die Schulabgänger nicht gelernt haben, selber ihre Zeit einzuteilen. Damit das künftigen Generationen nicht mehr so ergeht, engagiert er sich in einer Gruppe aus zehn Eltern und Lehrern. Sie tingeln seit Anfang April durch Hamburger Schulen, um den Menschen zu zeigen, dass es funktioniert, wenn lernschwache und lernstarke Schüler gemeinsam in einer Klasse lernen. Denn im mit Spannung erwarteten Hamburger Volksentscheid zur Primarschulreform am 18. Juli geht es nicht nur darum, dass Kinder zwei Jahre länger gemeinsam lernen, sondern auch um neue Lernkultur.

Selbst sehen, was richtig ist

Station 1 ist ein Puzzlespiel mit Buchstaben. Kinder sehen das Bild eines Affen oder Krokodils und sollen die passenden Buchstaben daneben setzen. Auf der Rückwand der Steine sind Stäbchen, die in Löcher auf dem Brett passen müssen. So wissen die Kinder bei „Kontrollfix“ auch ohne Lehrer, dass es richtig geschrieben ist. Station 2 und 3, „Lesenspur“ und „Little Genius“, funktionieren ganz ähnlich. „Es gibt tolle Materialien“, sagt Grundschullehrerin Kaube. Wichtig sei die Methode „Lesen durch Schreiben lernen“, bei der Kinder von der 1. Klasse an alle Buchstaben bekommen und auch zunächst etwas falsch schreiben dürfen. Sie habe in ihrer ersten Klasse einer Bergedorfer Grundschule sehr gute Erfolge damit erzielt. „80 Prozent haben im ersten Jahr lesen gelernt.“ Auch die in der Klasse durchgeführte „Hamburger Schreibprobe“ sei sehr gut ausgefallen.

Aber geht das, was mit Grundschulkindern funktioniert, auch mit den Großen? „Es geht“, sagt am Nachbartisch Hanna Goebel, Schülerin der Gesamtschule Winterhude. „Wir haben keinen Frontalunterricht“, erklärt sie den Erwachsenen. Die Schüler können selber entscheiden, wann sie in die Fachräume für Deutsch, Mathe oder Englisch gehen, sich dort einen Ordner nehmen und „Bausteine“ bearbeiten. Auf dem Tisch liegt eine Aufgabe zum Thema Krimi. In diesen kulturellen Basisfächern können die Schüler auch selber sagen, wann sie bereit sind, einen Test zu schreiben. Hanna Goebel: „Und wenn ich in Deutsch gut bin, und in Mathe nicht so, kann ich in einer Woche für das eine Fach mehr Zeit investieren, als für das andere.“

Zur Not gibt’s auch Druck

Die Schüler lernen jahrgangsübergreifend in den Klassen 8,9 und 10. „Es gibt kein Mobbing bei uns. Der Zusammenhalt ist sehr gut“, berichtet Schüler Kolja Völker. Alle zwei Wochen führe der Lehrer mit dem Schüler ein Einzelgespräch. „Wenn es nicht so gut läuft, gibt es da auch ein bisschen Druck.“ Zensuren bekommen die Winterhuder erst ab der neunten Klasse.

An Station 9 gibt es Beispiele für neue Formen der Leistungsrückmeldung, in denen relativ genau beschrieben wird, was ein Schüler kann, und wo es hapert.

Ein Wagen voller Bücher

An Tisch 14 und 15 berichten Schüler der Blankeneser Gesamtschule von ihren Lernerfahrungen. Ein Gerüst dafür sind „Kompetenzraster“, A 4-Zettel mit bis zu 20 Feldern, auf denen steht, was Schüler einer Klassenstufe in einem Fach lernen sollen. Stolz zeigt die Achtklässlerin Viktoria ihre Chemiemappe, in der alle Raster einen Punkt für erledigt aufweisen. Sie hatten die Aufgaben und einen Wagen voll Bücher, um nach den Antworten zu suchen. Alle vier bis fünf Wochen müssen sie Ergebnisse präsentieren. „Man kann gut im Team arbeiten“, sagt sie. „Es ist anstrengender, aber auch lehrreicher als Frontalunterricht.“

Am Nebentisch sitzt Markus. Er hatte in der neunten und zehnten Klasse das Profil „Medien“ gewählt und gleich in den vier Fächern Deutsch, Mathe, Geschichte und Gesellschaft in einer Lernwerkstatt gelernt. „Wir konnten uns selber die Zeit einteilen, aber wir mussten jeden Donnerstag eine kurze Präsentation abhalten.“ Zum Beispiel über Napoleon. An der Stellwand hängen Beispiele. Markus ist jetzt in der zwölften Klasse. Bis auf vier haben aus seiner Klasse alle den Sprung in die Oberstufe geschafft. Ohne die Lernwerkstatt hätte er persönlich das nicht geschafft, glaubt Markus.

Ein Erfolg seiner früheren Klassenlehrerin Sabine Schiller. Sie hat in jüngeren Klassen auch mit dem „Chefsystem“ gearbeitet: Jedes Kind erarbeitet eine Aufgabe und beurteilt später als „Chef“, ob andere Kinder sie richtig lösten. Dabei hätten auch schwache Schüler Erfolgserlebnisse, berichtet sie. „Ich habe da göttliche Szenen erlebt. Dass ein Fünftklässler, der eigentlich nur Förderschulempfehlung hatte, zu einem Kind mit Gymnasialempfehlung sagt: Das hab ich dir doch schon gestern erklärt’.“

Ein Pensionär ist skeptisch: „Wenn ein Lehrer mit zwei hochbegabten und zwei Förderschülern in einer Klasse ist, kann er das nicht schaffen“, sagt er. Ja, man bräuchte am besten Doppelbesetzung, die Lehrerausstattung sei zwar besser als früher, könnte aber noch besser sein, stimmt Kaube ihm zu.

Gegner kamen ins Wanken

Ansonsten kaum Kritik. Und an der Meinungslinie ist das grüne Schild am Ende dicht bevölkert. Es ist Thomas Klassens achter Workshop. Das Feedback sei „immer sehr positiv“. Beim letzten Mal in der Schule Rötmoorweg seien zwei Primarschulgegner dabei gewesen und hätten die ganze Zeit dagegen argumentiert. „Aber am Ende kamen sie ins Wanken.“

„Man kann uns buchen“, sagt Robert Schneider, Elternvertreter der Gesamtschule Winterhude. Er hofft auf Veränderung von unten und glaubt, dass sich inzwischen eine ganze Reihe von Schulen in Hamburg „auf den Weg gemacht“ hat. „Wir haben unseren Workshop schon in Schulen abgehalten, wo ganze Lehrerkollegien danach sagten: ,Wir machen das jetzt so‘.“ Die Gruppe will ihre Vorträge fortsetzen, egal wie die Volksabstimmung ausgeht.

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