„Anderen Ländern weit voraus“

Faruk Sen, Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien, über „vorzügliche“ Integrationspolitik in NRW, „unglückliche“ Integrationsgipfel der Kanzlerin und fehlende Chancen für Zuwanderer

INTERVIEW ANDREAS WYPUTTA

taz: Herr Sen, im Vorfeld des so genannten Integrationsgipfels von CDU-Bundeskanzlerin Merkel setzt Nordrhein-Westfalens Landesregierung auf einen 20-Punkte-Plan. Was halten Sie von dieser Initiative?

Faruk Sen: Ein ausgezeichneter Vorstoß! Der 20-Punkte-Plan von CDU-Integrationsminister Armin Laschet hat Vorzeigecharakter. Durch diesen Vorstoß wird NRW die Inhalte des Gipfels maßgeblich mitbestimmen.

Sie selbst wollen den Integrationsgipfel der Kanzlerin aber boykottieren.

Das sind zwei unterschiedliche Ebenen. Auf Landesebene gibt es nun erstmalig in Deutschland ein Integrationsministerium, und das leistet vorzügliche Arbeit. Der 20-Punkte-Plan hält – vom ganzen Kabinett und damit von beiden Regierungsparteien getragen – ausdrücklich fest, dass die Integration von Migranten eine Aufgabe aller Ministerien ist. Der Integrationsgipfel der Kanzlerin dagegen ist inhaltlich schlecht vorbereitet. Zu so wichtigen Themen wie Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Islamophobie, aber auch der Sprachkompetenz gibt es nicht einmal Arbeitsgruppen.

Sie bleiben also dabei: Der Integrationsgipfel auf Bundesebene ist eine Farce?

Die Organisation des Gipfels ist zumindest unglücklich. Man muss die Migranten und ihre Organisationen einfach ernster nehmen.

Die Landesregierung dagegen will sich etwa mit der Einführung eines Islam-Schulunterrichts in deutscher Sprache profilieren. Ist Nordrhein-Westfalen den anderen Bundesländern voraus?

Den deutschsprachigen Islamunterricht fordern wir am Zentrum für Türkeistudien seit fünf Jahren. Da freut es uns natürlich, wenn dieser Punkt aufgenommen wird. Nordrhein-Westfalen ist anderen Bundesländern aber ganz davon abgesehen weit voraus – denken Sie doch nur an Baden-Württembergs merkwürdigen Einbürgerungstest.

Aber warum werden so wenige Migranten Lehrer? Liegt das nicht auch an der mangelnden Förderung? Immerhin verlassen über 40 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund das deutsche Schulsystem ohne jeden Abschluss.

Sie weisen auf ein wichtiges Problem hin. Aber trotzdem: Eigentlich würde das Lehramt den über 11.000 türkischstämmigen Studierenden allein in NRW eine klare Berufsperspektive bietet – ganz im Gegensatz zu dem Studienfach Jura, dass derzeit von über 3.000 türkischstämmigen Studierenden belegt wird. Nach der Schwemme der Dönerbuden droht uns eine Schwemme der Rechtsanwälte.

Gleichzeitig fordert NRW-Integrationsminister Laschet mehr Zuwanderung – und will unter Migranten für verstärkte Einbürgerung werben. Ungewöhnlich für einen Christdemokraten, oder?

Die Politik Nordrhein-Westfalens war gerade im Vergleich zu Bayern oder Baden-Württemberg immer liberal. Ich hoffe aber, dass diese Kampagne unter Migranten die Neigung verstärkt, sich einbürgern zu lassen.

Dennoch klagen Sie über ungleiche Chancen, sogar über Perspektivlosigkeit.

Das ist richtig. Sehen Sie: Die Arbeitslosigkeit bei türkischstämmigen Migranten liegt doppelt so hoch wie bei Deutschen. Dies liegt zunächst am geringeren Qualifizierungsniveau. Aber auch ein Zuwanderer, der sich bei gleicher Qualifikation auf die gleiche Stelle bewirbt, wird mitunter benachteiligt. Das ist zwar kein deutsches Phänomen – gleiches gilt auch für die Niederlande oder Österreich. Wenn wir aber wollen, dass sich die Zuwanderer voll mit Deutschland identifizieren, müssen Sie bei der Arbeits- oder Wohnungssuche gleiche Chancen bekommen.

Weil sie sonst wieder gehen könnten?

Die Möglichkeit besteht. Unsere Befragungen ergeben ganz klar, dass sich wieder mehr Menschen die Option der Rückkehr offen halten. Verlierer wäre die Bundesrepublik Deutschland, die es nicht schafft, diese junge Bevölkerung zu integrieren, sie zu fördern und ihre Stärken zu nutzen – insofern sind Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, der das Zuwanderungsgesetz mit der bedingungslosen Anpassung an eine so genannte deutsche Alltagskultur verknüpfen will, mehr als unglücklich.