Lernen im Schichtbetrieb

Auf den Philippinen sitzen bis zu 150 Kinder in einer Klasse: Nun lernen die einen morgens, die anderen nachmittags

Anita Antonio ist frustriert. Die 36-Jährige putzt die Häuser gut verdienender Ausländer in der philippinischen Hauptstadt Manila oder hütet deren Kinder. Der Lohn für zehn Stunden harte Arbeit sind umgerechnet 6 Euro. Davon muss ihre fünfköpfige Familie leben, der Mann ist arbeitslos.

Und nun hat der älteste Sohn auch noch die Grundschule beendet, „und die Highschool ist so teuer“. Knapp drei Tagesgehälter habe sie allein für die Anmeldegebühr und die Uniformen des Siebtklässlers berappt. Die Erwartung war entsprechend hoch, die Enttäuschung umso größer. „In Marcs Klasse sind 72 Schüler, was soll er denn da lernen?“, ärgert sich die Filipina. „Ich kratze jeden Peso für die Schule zusammen, und dann das.“

Dies ist kein Einzelfall. Als vor zwei Wochen das neue Schuljahr auf den Philippinen begann, strömten landesweit 17,8 Millionen Schüler in die staatlichen Grund- und Mittelstufen, ein Plus von fünf Prozent im Vergleich zu 2005. Viele konnten gleich wieder heimgehen. Die Klassenzimmer platzten vor allem in der Hauptstadt aus allen Nähten. Eine Grundschule meldete durchschnittlich 150 Kinder pro Klasse, ein trauriger Rekord. Undichte Dächer, mangelnde Wasserversorgung, defekte Toiletten – viele Klassenzimmer, vor allem auf dem Land, gleichen zudem Bruchbuden.

Im Bildungsministerium hat man die Misere kommen sehen. Ministerin Fe Hidalgo warnte, dass 2006 aufgrund des ungebremsten Bevölkerungswachstums landesweit mehr als 10.000 Lehrer und 7.000 Klassenräume fehlten. Eigentlich ist der Raummangel noch krasser, denn der Bedarf wurde auf der Grundlage von 100 Kindern pro Klassensaal berechnet. Um den Andrang zu bewältigen, wird auf den Philippinen in Schichten gelehrt: morgens von 6 bis 12 Uhr und nachmittags von 12 bis 18 Uhr.

Präsidentin Gloria Arroyo pfiff ihre Ministerin zurück und versprach, das Problem zu lösen. Senat und Kongress kündigten finanzielle Soforthilfe an. Ein Trostpflaster, denn trotz steil wachsender Schülerzahlen bleibt der Schuletat lächerlich niedrig: Im Jahre 2005 gab die Arroyo-Regierung nur 3,2 Prozent des Bruttosozialprodukts für Bildung aus. Damit rangieren die Philippinen in Asien an drittletzter Stelle.

Dabei waren Schulsystem und Bildungsstand im Inselstaat früher vorbildlich für viele Nachbarländer. Da das Schulwesen von der einstigen Besatzungsmacht USA aufgebaut wurde, war Englisch die Unterrichtssprache. In keinem anderen Land der Region war gutes Englisch so verbreitet, eine Einladung für ausländische Investoren. Doch diesen Wettbewerbsvorteil verspielt das Land zunehmend, heute wird oft der lokale Dialekt in den philippinischen Schulen gesprochen. Callcenter gelten noch als Wachstumssektor der insgesamt maroden Wirtschaft, aber immer mehr Jobsuchende fallen bei den Englischtests durch.

Exbildungsminister Florencio Abad präsentierte bereits 2004 dramatische Zahlen: 99 Prozent aller Sechsklässler hätten miserable Ergebnisse beim Zulassungstest für die Highschools abgeliefert. Auch Highschool-Absolventen schnitten nicht besser ab: Beim Einstufungstest fürs weiterführende College seien durchschnittlich nur 44 Prozent der Fragen richtig beantwortet worden. Vor 20 Jahren seien es noch über 90 Prozent gewesen, so Abad.

Nilda de Guzman kann das nur bestätigen. Seit 30 Jahren unterrichtet sie Drittklässler. „Eigentlich ist alles schlechter geworden“, sagt die Lehrerin. Der Regierung gibt sie daher ganz schlechte Noten, aber auch den Eltern liest sie die Leviten: „Die wissen nicht mehr, wie wichtig Schule ist, gerade wenn man arm ist. Immer mehr Eltern kümmern sich nicht um die Ausbildung ihrer Kinder, das ist sehr traurig.“

Für Anita Antonio gilt das nicht. Sie schuftet weiter fürs Schulgeld, denn ihr zwölfjähriger Sohn hat sie beruhigt: „Weißt du, Mama, da mein Nachname mit A anfängt, sitze ich ganz vorne. Da kann ich den Lehrer wenigstens gut hören.“

HILJA MÜLLER, MANILA