„Die kommen als Deutsche zurück“

Kaum ein Studierender mit Migrationshintergrund geht ein Semester ins Ausland. Viele haben Angst, sich erneut integrieren zu müssen, oder kennen die Stipendienprogramme nicht. Die deutsch-amerikanische Fulbright-Kommission schickt nächste Woche erstmals 17 Einwandererkinder in die USA

Die meisten Migrantenkinder bringen das Studium lieber schnell zu Ende

VON JAN ZIER

An Auslandserfahrung mangelt es Ilja Vladimirov nicht. Er ist in Sankt Petersburg geboren, in Estland aufgewachsen und kam 1993 nach Deutschland. Hier studiert er Physik in Heidelberg. In der kommenden Woche nun geht der 21-Jährige einige Wochen in die USA, um an der University of Alaska in Anchorage zu studieren.

Damit ist er einer der wenigen migrantischen Studierenden in Deutschland, die während ihres Studium ins Ausland gehen. Vladimirov ist Teilnehmer des Programms „Diversity Initiative“ der deutsch-amerikanischen Fulbright-Kommission. Es gibt erstmals speziell migrantischen Studierenden die Möglichkeit, die fünf- bis sechswöchigen „Summer Schools“ US-amerikanischen Universitäten zu besuchen.

Denn bisher kommen höchstens 2 oder 3 der jährlich 250 geförderten Studierenden aus Migrationsfamilien, schätzt Fulbright-Direktor Rolf Hoffmann. Also rund 1 Prozent. „Das treibt uns schon seit Jahren um“, sagt Hoffmann.

Zwar könnte man meinen: Gerade diesen StudentInnen fällt es leichter, sich in einem anderen Land erneut zurechtzufinden. Doch häufig genug, so Hoffmanns Erfahrung, überwiegt die Angst. Nicht jeder, der sich hierzulande mühsam integriert habe, wolle im Ausland nochmal von vorn anfangen. Noch ein fremdes Land, noch eine fremde Sprache. Und viele der migrantischen Studierenden, sagt Ilja Vladimirov, bleiben dann auch hierzulande lieber unter sich, in der eigenen Community.

Zwar hat der „Mikrozensus 2005“ Deutschland vor kurzem offiziell zum Einwanderungsland erklärt: Ein Fünftel aller EinwohnerInnen haben einen Migrationshintergrund. An den Hochschulen sieht es jedoch ganz anders aus.

Gerade mal 140.000 Studierende aus Migrationsfamilien zählt die aktuelle Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW). Das sind bei rund 2 Millionen Immatrikulierten nicht mehr als 7 Prozent. Wie viele unter ihnen während ihres Studiums ins Ausland wechseln, lässt sich nicht genau sagen.

Viele sind es aber nicht, heißt es beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Offizielle Zahlen gibt es dazu keine. Spezielle Initiativen für migrantische Studierende hat der DAAD nicht.

Zudem wissen viele migrantische Studierende gar nichts von ihren Möglichkeiten, finanziell unterstützt im Ausland zu studieren. Die Unwissenheit ist ebenso weit verbreitet wie die Ansicht, dass derlei Förderprogramme ohnehin nur den Deutschen zugänglich seien.

Manchmal zu Recht. Denn bei Fulbright kann sich für gewöhnlich nur bewerben, wer auch deutscher Staatsbürger ist. So steht es im Staatsvertrag der 1952 gegründeten Organisation, die allerdings auch in allen west- und osteuropäischen Nachbarländern existiert. 40.000 AmerikanerInnen und Deutsche haben bereits von ihm profitiert (siehe Kasten).

Die „Diversity Initiative“ ist zunächst nur ein Pilotprojekt. Zunächst werden 17 Studierenden gesponsert. Im kommenden Jahr sollen es laut Hoffmann immerhin schon 25 werden – für mehr reiche das Geld noch nicht. „Aber wir sind nach oben offen.“ Die Hoffnung ist, dass Fulbright speziell die MigrantInnen irgendwann auch für ein ganzes Jahr in die USA schicken kann – wenn die es überhaupt wollen.

Die meisten studieren „sehr zielführend“, wie Hoffmann sich ausdrückt – ein längerer Auslandsaufenthalt „passt da oft nicht in die Lebensplanung“.

Das geht auch Ilja Vladimirov so. Ob man fünf Jahre studiere oder sechs – „das macht schon noch mal einen Unterschied“. Allein für die im Juli beginnende Summer School verschob er sein Mathe-Vordiplom, fünf Klausuren müssen nun erst einmal warten.

Außerdem muss man sich einen USA-Aufenthalt auch leisten können: Zwar übernimmt Fulbright die meisten Kosten. Doch 500 Euro, schätzt Vladimirov, muss er auf jeden Fall aus eigener Tasche draufzahlen. Doch die Aussicht auf besseres Englisch ist ihm das wert.

Geboten werden ihm in den Vereinigten Staaten aber nicht nur Sprachkurse in „Business-Englisch“ – sondern auch allerlei Seminare, in denen es um amerikanische Geschichte, Power-Point-Präsentationen oder Selbstmarketing geht. LehramtsanwärterInnen können zusätzlich ein paar Einheiten Pädagogik belegen. Neben Alaska stehen dabei Universitäten in Nebraska sowie Kalifornien auf dem Plan.

So wie Ilja Vladimirov geht es den meisten Studierenden, die in die USA reisen, vor allem um die Sprache. „Das Urlaubsenglisch bringt einen im Leben nicht weiter“, meint auch Irina Lemmer, deren Eltern aus der Ukraine stammen. Dabei ist die 23-Jährige, die seit elf Jahren hier lebt, schon heute der Traum eines jeden Personalchefs: Ihr Lebenslauf verzeichnet sechs Jahre Berufserfahrung als Bürokauffrau, das Abitur hat sie auf dem zweiten Bildungsweg gemacht, nebenher, auf dem Abendgymnasium. Ihr Deutsch klingt so akzentfrei, als sei es ihre Muttersprache. „Das zu hören macht mich stolz“, sagt sie.

Selbstverständlich ist ihr positives Verhältnis zu Deutschland keineswegs. Denn zu oft, erzählt Irina Lemmer, wurde die Familie in der Ukraine als „faschistisch“ beschimpft, ihrer deutschen Wurzeln wegen. „Doch Deutschland hat mir all das ermöglicht, was ich heute mache“, sagt sie, die in Stuttgart Gesundheitswesen studiert. In der Ukraine, das ist sie sich sicher, hätte sie diese Chance „nie“ gehabt. „Stattdessen wäre ich jetzt verheiratet und hätte Kinder.“ Eine Hausfrau eben, aus armem Hause. „Da hat man doch von vornherein verloren.“ Also musste sie weg.

Mittlerweile ist Irina Lemmer viel herumgekommen. Beiläufig erzählt sie von einer Reise nach Dubai. Und doch kommt auch bei ihr eine gewisse Skepsis auf, wenn sie an die USA denkt. „Ich weiß nicht, wie gut ich da bin.“ Die Erinnerung an die ersten Jahre in Deutschland wird wach. „Es war nicht leicht“, sagt sie dann, „schließlich konnte ich kein Wort Deutsch.“

Und so will sie sich auch jetzt wieder „etwas beweisen“, so viel ist sicher – und dabei „das Möglichste herausholen“. Nicht nur für sich. „Ich repräsentiere auch mein Land.“ Keine Frage, welches Land damit zuallererst gemeint ist: „Deutschland natürlich.“ Und so will sie auch über „ihr Land“ berichten. Ohne ihre Herkunft zu verschweigen. Dabei die „andere Kultur“ kennen lernen, noch eine andere Kultur. „Die Dinge sehen, die typisch sind für Amerika.“

Sie möchte ein Vorbild für ihre Geschwister sein.

Sind die Studierenden, die nun an der „Diversity Initiative“ teilnehmen, eine Elite? Ja, sagt Rolf Hoffmann. Doch er mag lieber von „Multiplikatoren“ sprechen. Und darauf hoffen, dass alle TeilnehmerInnen Deutschland erhalten bleiben, auch über ihr Studium hinaus. Denn wer einen Migrationshintergrund hat, sagt der Fulbright-Direktor, der kommt – einmal im Ausland gewesen – „zurück als Deutscher“. Ein „Paradigmenwechsel“ sei das, der da stattfinde. Im Ausland.

Von solch großen Worten möchte Ilja Vladimirov, eine Woche bevor er nach Alaska fliegt, nichts hören. Ihn interessieren auch manche Kleinigkeiten, die ihn auf der anderen Seite des Atlantiks erwarten. Wie viel eigentlich ein Burger in Alaska kostet, sagt er. Und wie die amerikanischen Ampelmännchen aussehen. „Kleinigkeiten eben.“