Das Ersatz-Dornröschen

Wenn er kommt, kommt er von der Bank: Der Auswechselspieler Sebastian Kehl fühlt sich trotzdem so fit wie nie. Ein Beweis, dass die Modernisierungsbemühungen von Jürgen Klinsmann Erfolg haben

AUS BERLIN BASTIAN HENRICHS

Dornröschen schlief hundert Jahre, bevor es wach geküsst wurde. So lange kann und will Oliver Bierhoff nicht warten. Der Teammanager der deutschen Nationalmannschaft verkündete vor einigen Tagen auf der Pressekonferenz des DFB die Hoffnung, dass die Bundesligavereine schon bald aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen werden und die in der Nationalmannschaft entwickelten Neuerungen im Trainingsbereich übernehmen. Mit diesem märchenhaften Bild wollte Bierhoff verdeutlichen, was sich in den bisherigen WM-Spielen der Nationalmannschaft gezeigt hat: Die Nationalspieler sind körperlich und geistig fitter als noch vor wenigen Wochen – als die Bundesliga noch lief.

Einer, der in der Rückrunde der Bundesliga überzeugende Leistungen zeigte und dafür mit der Nominierung ins WM-Team belohnt wurde, ist Sebastian Kehl. Der 26-Jährige muss die WM zwar vorwiegend auf der Ersatzbank zubringen, doch er fühlt sich körperlich „sehr, sehr gut“. Und sagt: „Wer am Ende des Spiels noch Power hat, wird sich durchsetzen. Ich denke, dass wir da einen Pluspunkt gegenüber anderen Mannschaften haben.“

War die Fitness-Kritik, die der DFB-Trainerstab vor der Weltmeisterschaft an die Bundesliga-Vereine gerichtet hatte, also angebracht? Kehl versichert, dass auch in Dortmund professionell gearbeitet wird und dass im Grunde jeder selbst verantwortlich für seinen körperlichen Zustand sei. Dennoch, so sagt er weiter, habe er das Gefühl, eine persönliche Leistungssteigerung aus dem Turnier mitzunehmen: „Ich denke, dass ich mich auf ein höheres Niveau gebracht habe.“ Und das, obwohl Kehl erst 23 WM-Minuten auf dem Platz verbracht hat. Allerdings wird genau das von einem Ergänzungsspieler erwartet: fit zu sein für den Notfall. „Wir haben in diesem Bereich sehr intensiv gearbeitet“, sagt Kehl, „auch mal ein bisschen alternativ zu dem, was in der Bundesliga passiert.“

Verantwortlich für die alternativen Methoden ist Mark Verstegen. Den hatte Jürgen Klinsmann zu Beginn der Umstrukturierungen aus den USA engagiert. Seitdem trimmt Verstegen die deutschen Spieler. Statt Waldläufen stehen Koordinationsübungen und individualisiertes Krafttraining auf dem Plan. „Diese Fitness, die läuferische Bereitschaft, der Wille“, sagt Kehl, „das sind jetzt unsere Stärken.“

Kehl hat akzeptiert, dass der Kern der Mannschaft steht und er sich mit der Rolle des dritten, vierten Einwechselspielers begnügen muss. Aufkommenden Frust verarbeitet er im Training. Klinsmann habe ein sehr gutes Maß gefunden, den Spielern deutlich zu sagen, dass sie nicht zur Stammelf gehören, aber dennoch ein sehr wichtiger Teil der gesamten Mannschaft sind.

Schon bei der WM 2002 hat Kehl gelernt, sich nicht abzuschreiben. Damals nutzte er seine Chance, als er im Achtelfinale gegen Paraguay eingewechselt wurde. Im nächsten Spiel gegen die USA durfte Kehl 90 Minuten spielen. Aber selbst wenn es dieses Mal nicht so kommen sollte, wird er sich nicht beschweren. „Ich habe mir die Herausforderung gestellt, die Situation so anzunehmen, wie sie ist.“

Das Kalifornische von Klinsmann hat abgefärbt auf den früher so nüchternen Hessen, seine Begeisterung über den Geist im Team und die neuen Methoden wirken echt. So wird der Ersatzspieler zum Öffentlichkeitsarbeiter und verlängerten Arm von Oliver Bierhoff. Wie dieser propagiert er die neue Philosophie und die – im verstaubten deutschen Fußball als geradezu revolutionär wahr genommenen – Methoden der amerikanischen Fitnesstrainer: „Das kann nur eine Bereicherung sein, auch für die Bundesliga. Wer immer in den Fußabdrücken andere läuft, hinterlässt keine Spuren.“