„Die Leute mobilisieren sich selbst“

SCHULDENKRISE Die staatenübergreifenden Sparmaßnahmen in Europa sind eine historische Chance für die sozialen Bewegungen, sagt der französische Aktivist Michel Rousseau. Die müssten ihren Horizont weiten

■ 66, ist Postbeamter in Rente sowie Mitbegründer und Koordinator beim europäischen Netzwerk Euromärsche.

taz: Herr Rousseau, Sie rufen gemeinsam mit den Gewerkschaften für den 29. September zu europaweiten Protesten auf. Wird es ein heißer Herbst?

Michel Rousseau: Ja. Wir wissen, dass Demo-Mobilisierung kein Knopf ist, auf den man drücken kann, sondern organisatorisch häufig sehr großen Vorlauf von Organisationen und Parteien braucht. Was momentan in Europa besonders ist, ist, dass die Menschen in vielen Ländern spontan auf die Straße gehen. Ob Griechenland, Frankreich, Spanien, Portugal: Die Leute mobilisieren sich selbst.

In diesen Ländern lag die Hemmschwelle für soziale Proteste schon immer niedriger.

Neu ist aber, dass durch die Sparmaßnahmen in nahezu allen europäischen Ländern auch die Menschen woanders sehr genau hinschauen, was in Griechenland oder Frankreich passiert. Wenn die Bewegungen dort erste substanzielle Erfolge erzielen, kann sich eine Dynamik entwickeln, die erstmals wirklich grenzübergreifend wirken kann. Das ist ja das eigentlich Wichtige: Wir können auf den Straßen nicht weiter nur in unseren Landesgrenzen agieren. Das geht an der politischen Realität vorbei.

Was verbindet den Arbeiter in Deutschland mit der Lehrerin in Griechenland?

Zumindest eins: Überall in Europa sind durch die Sparmaßnahmen der Regierungen viele Menschen von Armut bedroht, arbeitslos, arbeiten unter prekären Bedingungen oder wissen nicht, wie sicher ihre Renten sind. Es gibt eine historische Notwendigkeit, eine echte europäische Basisbewegung zu schaffen. Wenn wir es nicht schaffen, unsere Proteste als europäische Idee zu begreifen, werden populistische, nationalistische und rassistische Strömungen an Stärke gewinnen. Ansätze sind ja bereits zu beobachten. Wir müssen dringend verhindern, dass es zu gesellschaftlichen Stimmungen wie in den 30er Jahren kommt.

Dazu braucht man schlagkräftige Bewegungen. In Deutschland sieht das mau aus.

Das schätze ich anders ein. Natürlich tut sich bislang auf den Straßen wenig, aber die Bewegungen sind nicht tot. Siehe das stete Wachsen der Linkspartei. Die neue Qualität Armut, die unter der Regierung Merkel vorangetrieben wird, entfaltet eine eigene Mobilisierungswirkung.

INTERVIEW: MARTIN KAUL