STRAFANZEIGEN – DIE ULTIMATIVE RACHE FÜR DEN GETÖTETEN BÄREN
: Verrutschte Prioritäten

Zahlreiche Urlauber haben ihren Aufenthalt in der Region Schliersee storniert, um so gegen den Abschuss eines Braunbären zu protestieren. Unbekannt muss bleiben, wie viele Gäste ferngeblieben wären, hätte der Bär sich irgendwann nicht mehr auf Angriffe gegen Meerschweinchen und Schafe beschränkt, sondern Menschen attackiert. Auf eine Reaktion immerhin kann man vertrauen: Viele Strafanzeigen wären erstattet worden. Von allen möglichen Leuten und gegen alle, die irgendwie hätten verantwortlich gemacht werden können.

Gottlob sind keine Menschen getötet worden. Aber eben der Bär, und so werden in diesen Tagen viele Strafanzeigen erstattet. Von allen möglichen Leuten und gegen alle, die für seinen Tod verantwortlich gemacht werden können. So weit, so vorhersehbar. Deutsche klagen gern, wie die chronische Überlastung der Gerichte beweist.

Allerdings nicht in jedem Falle. Im Wortsinne „klaglos“ hat die Öffentlichkeit das Luftsicherheitsgesetz weitgehend hingenommen, das im Falle einer terroristischen Bedrohung den Abschuss einer Passagiermaschine legitimieren sollte. Das Verfassungsgericht hat dieses Gesetz gekippt. Aber die Bevölkerung hatte es zuvor gelassen registriert, dass eine Güterabwägung von Gefahren zum Tod unbeteiligter Fluggäste führen könnte.

Die Prioritäten in dieser Gesellschaft scheinen ziemlich verrutscht zu sein. Wenn einige Menschen getötet werden, damit mehr Menschen gerettet werden können, dann gilt das als akzeptabel. Wenn ein Bär getötet wird, um Menschenleben nicht zu gefährden, dann weint die Nation. Und viele nehmen im Internet auf einem virtuellen Tierfriedhof von ihm Abschied. Haben wir eigentlich noch alle Tassen im Schrank?

Die Strafanzeigen sind auch in anderer Hinsicht interessant. Tief scheint der Wunsch nach einer letzten Instanz zu sein, die jedes moralische Dilemma unanfechtbar lösen kann. Als ob das nicht eher die Aufgabe von Kirchen als die von Gerichten wäre. In jeder einzelnen Klage offenbart sich ein bedrückend kitschiges Verständnis von staatlichem Handeln. BETTINA GAUS