Schmerz am Draht

Wenn die Polizei das Grillen vor dem Urban-Krankenhaus beendet, waren die Leidenden im 12. Stock am Werk

Am Abend ist die große Wiese zwischen Kanalufer und Urban-Krankenhaus bis auf den letzten Platz belegt – hier gibt es die ultimative Aussicht auf den schönsten Sonnenuntergang, die strahlendsten Schwäne und die schicksten Schneckchen in der ganzen Stadt. Vor dem Krankenhaus beobachten Kranke mit zwiespältigen Gefühlen das fröhlich bunte Treiben. Nach Krankensitte sitzt so mancher im Krankenstuhl. Andere haben Rollständer dabei, an denen sich, wie Flaggen auf Halbmast, durchsichtige Beutel befinden – gefüllt mit Infusionslösungen, Urin oder Wundflüssigkeit. Dabei haben es diese Kranken noch gut getroffen, die fit genug sind, sich am Abend vor die Tür zu retten.

Bald entpuppt sich fast jede größere Gruppe als Grillgesellschaft. Beißender Qualm sorgt für vorzeitig hereinbrechende Dunkelheit. Je später der Abend, desto öfter verschwinden die Freizeitgestalten im Krankenhaus. Wegen geschlossener Toiletten in der Haupthalle mutiert die Rettungsstelle zur Bedürfnisambulanz. Besoffen, bekifft und mit Grillsößchen bekleckert, taumeln Suchende zwischen Leicht- und Schwerverwundeten umher.

Während unweit von uns zwei plötzlich aufgetauchte Polizisten ein Grillspektakel beenden, denke ich an die Kranken: Den ganzen Tag liegen sie bei dieser Hitze im Zimmer und haben Schmerzen. Die Schmerzen vergällen ihnen alles und machen sie unglaublich verbittert. „Ich leide hier“, brüten sie gewiss, „und die amüsieren sich. Sitzen da draußen im Bikini und saufen und grillen. Und danach poppen sie wahrscheinlich in den Rabatten, oh ja, ich weiß Bescheid, während ich hier liege und Schmerzen habe, oh, was habe ich bloß für Schmerzen!“

Und dann robben sie auf ihren Stümpfen zum Fenster, in stundenlanger qualvoller Arbeit, Zentimeter für Zentimeter, ziehen sich mit letzter Kraft mit den Zähnen an der Raufasertapete hoch, öffnen das Fenster mit den Ohren und schauen raus: Unten am Hafen haben die Leute gerade angefangen zu grillen. Kühles Bier in der Hand und alle im Bikini, auch die Männer. Prüfend streifen die Blicke schon mal die Rabatten: Welche Rabatte beherbergt wohl die geringste Dichte an Müll und Kacke? Wo kann man nach dem dritten Nackensteak am besten poppen?

Sie ahnen nicht, dass dort oben im 12. Stock ein verbitterter Mensch mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihnen herunterspäht. Sein einziger Draht in die Außenwelt ist ein Telefon, das zugleich Fernbedienung ist und Fieberthermometer. Mit diesem Telefon ruft der verbitterte Mensch die Polizei. ULI HANNEMANN