Wir siegen, weil wir siegen

Jürgen Klinsmann hat dem deutschen Team einen Sieg über Argentinien verordnet. Er MUSS das heutige WM-Viertelfinale gewinnen. Wer mit den Spielern gesprochen hat, merkt: Die Mannschaft hat die Favoritenrolle angenommen

AUS BERLIN MARKUS VÖLKER

Jürgen Klinsmann hat kostbare Erinnerungen an die Argentinier. 1990, im WM-Finale, trug er seinen Teil zum Sieg bei. Sein großer Auftritt kam in der 65. Minute. Der Argentinier Monzon hatte ihn attackiert. Klinsmann ging zu Boden, als hätte ihn ein argentinischer Zuchtbulle gestreift, und wand sich theatralisch in Schmerzen. Hatte er sich einen Schienbeinbruch zugezogen, einen Kreuzbandriss? Man musste Schlimmstes befürchten. Aber dann stand Klinsmann auf und spielte einfach weiter.

Mit einem Video von dieser Szene könnte er sich ohne Probleme an der Lee-Strasberg-Schule für Schauspielkunst in New York anmelden, auch das Max-Reinhardt-Seminar in Wien würde den hochbegabten Fallkünstler sofort aufnehmen. Monzon wurde selbstredend vom Platz gestellt; Schiedsrichter Edgardo Codesal Mendez aus Mexiko hatte sich foppen lassen, allerdings wurden die Südamerikaner in diesem Turnier nicht für vornehme Zurückhaltung gerühmt. Alles Weitere ist Legende: Brehme erzielte per Elfmeter den Siegtreffer. Beckenbauer wandelte somnambul über den Platz. Die Deutschen glaubten an ihre Unantastbarkeit über Jahre hinaus, was sich als Trugschluss erwies.

Heute steht Klinsmann an der Seitenlinie, wenn es wieder gegen Argentinien geht, um 17 Uhr im Berliner Olympiastadion. Auch dieses Match ist ein Schlüsselspiel: Viertelfinale bei der Heim-WM. Sein Einfluss auf das direkte Spielgeschehen ist begrenzt. Und das argentinische Team ist ein anderes, es spielt weniger destruktiv, ist dafür gespickt mit hochtalentierten Individualisten wie Tevez und Messi, Sorin und Crespo. Kein Problem, sagt Klinsmann. Er traut seiner Auswahl einen Sieg zu. „Wir haben riesigen Respekt, aber wir haben auch das Selbstbewusstsein, das Zutrauen, Argentinien schlagen zu können“, glaubt der Bundestrainer. Seine Elf MUSS sie sogar schlagen, will Klinsmann sein persönliches Plansoll (Halbfinale) erreichen.

Ein Aus im Viertelfinale hat er unlängst als „Katastrophe“ bezeichnet. Will er die Katastrophe abwenden, muss dieser Große der Fußballwelt niedergerungen werden, ein Kraftakt, bei dem sich die deutsche Mannschaft in den vergangenen sechs Jahren stets verhoben hat. Allenfalls Unentschieden sind gegen die führenden Fußballnationen herausgekommen, gegen die Argentinier zwei 2:2-Spiele, weswegen Oliver Kahn heute auf ein Elfmeterschießen spekuliert. Eine hoffnungsfrohe Prognose, denn im Shoot-out wähnt sich die DFB-Elf unschlagbar. Aber ist wirklich damit zu rechnen, dass die beiden besten Mannschaften dieses Turniers die Entscheidung im finalen Duell des Schützen mit dem Torwart suchen müssen?

Davon ist eher nicht auszugehen. Zu groß scheinen die Fähigkeiten der Einzelkönner auf beiden Seiten. Klose, Podolski und Ballack können die Deutschen ins Feld führen. Die Argentinier bieten Riquelme & Co. auf. Hier herrscht Chancengleichheit. Aber ist das auch in Fragen der Defensive so? Können die schlaksigen Innenverteidiger des DFB-Teams die kleinen Flinkfüße in den Griff bekommen? Philipp Lahm glaubt daran. Der linke Außenverteidiger beschäftigt sich auch mit einem speziellen Szenario: Was passiert nach einem Rückstand? Bisher sind sie immer in Führung gegangen. In jedem der vier Spiele. Lahm empfiehlt im Falle des Falles: „Ganz normal weiterspielen, nicht beeindrucken oder unter Druck setzen lassen.“

In der heutigen Partie muss sich die Mannschaft beweisen, endgültig. An den Argentiniern kann sie ihren Entwicklungsvorsprung ermessen. Wie weit sind die Klinsmänner wirklich, das wird man nach diesem Spiel wissen. „Wir können gegen sie gewinnen“, sagt auch Lahm, „wir haben zuletzt gut gespielt, gut gekämpft, jeder läuft für den anderen, wir stehen kompakt, lassen wenig zu. Wir sind eine Einheit, deshalb werden wir weiterkommen.“ Den Optimismus zieht das Team aus einer Tautologie: Wir schlagen sie, weil wir sie schlagen können. Eine Boulevardzeitung hat das auf die Spitze getrieben: Man werde gewinnen, „Basta“.

Zu Turnierbeginn war das DFB-Team so weit von der Favoritenrolle entfernt wie Oliver Kahn von einem Einsatz bei dieser WM. Wenn sie im Viertelfinale auf die Argentinier treffen, das war vor drei Wochen die einhellige Meinung, wäre das Turnier für sie vorbei. Das sei nicht weiter schlimm, denn gegen die könne man ruhig verlieren, hieß es dann noch. Für Klinsmann war das damals schon ein fatalistischer Ansatz. Gestern wiederholte er auf der Pressekonferenz des DFB in Berlin seinen Anspruch: „Wenn jemand mit dem Viertelfinale zufrieden ist, dann sei ihm das überlassen, ich bin es nicht. Und die Mannschaft ist es auch nicht.“ Man darf es ruhig schreiben: Die Deutschen sind in diesem Spiel der Favorit. Klinsmann sieht darin sogar „eine Ehre“.

Einer der Besten im Team, Bernd Schneider, taxiert die Chancen freilich nur auf „fünfzig-fünfzig“. Der erfahrene Profi lebt in einer einfachen Welt, weswegen er auch einfach formuliert: „Im Fußball entstehen Tore durch Fehler und wenn man die Fehler minimiert, hat man gute Chancen, das Spiel zu gewinnen.“ Das heißt: Entweder entscheiden die Einzelkönner das Spiel oder ein Patzer gibt den Ausschlag. Damit ist wohl zu rechnen, wenn zwei spiel- und offensivstarke Team aufeinander treffen. „Wenn wir alles abrufen, haben wir eine große Chance“, ergänzt Michael Ballack, der Kapitän.

Bernd Schneider bringt auch die Fitness ins Spiel, das Plus der Deutschen. „Ich merke, dass jetzt richtig die Post abgeht bei mir, es geht richtig explosiv nach vorne.“ Früher hätte er nach Sprints längere Pausen einlegen müssen, aber nun könne er gleich wieder loslegen. Und außerdem sei da ja noch das Publikum, das ihn und die Mannschaft antreibe. „Dadurch können wir sogar noch aus dem kleinen Zehennagel Energie ziehen“, sagt Schneider. Vielleicht müssen sie das gegen die Argentinier sogar.