Im Dickicht des Textils

NEUBEWERTUNG Der Kunsttheoretiker Bazon Brock spricht in Wolfsburg über den Stoff in der Kunst

Die Göttin Ariadne schenkte einst Theseus ein Knäuel roten, selbst gesponnenen Garns, damit er, nach der Tötung des Minotauros, aus dessen Labyrinth den Weg hinaus zurückfinden konnte. Ein derartiges Utensil wünscht sich wohl so mancher in der aktuellen Ausstellung des Kunstmuseums Wolfsburg: Unter dem Titel „Kunst & Textil“ fährt diese auf 2.700 Quadratmetern Ausstellungsfläche 200 Exponate von KünstlerInnen sowie etwa 60 anonyme Artefakte aus Ethnologie und Kunsthandwerk auf, gegliedert in elf thematische Kapitel.

Nun haftet Kunst mit textilem Material in Europa ja durchaus noch das Stigma des kulturell minderwertigen Kunstgewerbes an: Sie ist Frauenkram. Dabei war schon Ariadne die Vorreiterin einer kühl rationalen Sicht auf das Textil und seine strategische Verwendung: Ihre lineare Navigationshilfe mittels rotem Faden ist nichts anderes als die Urform der Vektorisierung im zweidimensionalen Modus. Ariadne bringt durch die überlegte Erfassung nun Ordnung in das Chaos des vormals Undurchdringlichen.

Um den emanzipativen Gestus textiler Aufritte in der Kunst dreht sich auch die kuratorische These in Wolfsburg: Das Textile sei maßgeblich am Abstraktionsverlangen der modernen Kunst beteiligt und darüber hinaus ein Generator dreidimensionaler Ausdrucksformen. Zur Genese des Räumlichen wird an Gottfried Semper und sein um 1860 formuliertes „Prinzip der Bekleidung“ verwiesen: so seien alle Baukörperhüllen aus archaischen textilen Behängen wie Zelt oder Wandteppich abgeleitet. Als spätes Echo griff das Bauhaus in seinem Gründungsmanifest die Funktion des Stoffes auf, der Ausstattung des architektonischen Raum zu dienen.

Auf dem befreiten Grundriss der Architektur der Moderne entfaltete die – mittlerweile industriell gefertigte – Textilie einen sowohl raumbildenden als auch atmosphärisch hüllenden Charakter: als flexible, wahlweise transluzente oder metallisch schimmernde Stoffwand. In Wolfsburg ist ein Ausschnitt dem „Café Samt und Seide“ von Mies van der Rohe und Lilly Reich nachempfunden, ihrem Ausstellungsbeitrag für eine Damenmodenschau anno 1927.

Statt Ariadne navigiert nun Bazon Brock durch das textile Wolfsburger Dickicht. Der emeritierte Kunsttheoretiker, dem Wolfsburger Museum seit Langem verbunden, geht der fundamentalen Frage nach, ob aufgrund der Neubewertung textiler Artefakte durch die Wolfsburger Ausstellung die Kunstgeschichte neu gedacht werden müsse.  BETTINA MARIA BROSOWSKY

■ Mi, 15. Januar, 19 Uhr, „Kunst & Textil: eine Neulesung der Kunstgeschichte?“, Bazon Brock zu Gast im Kunstmuseum Wolfsburg ■ Ausstellung „Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute“, bis 2. März, Kunstmuseum Wolfsburg