„Es geht nicht um Spektakel“

Carlos Dunga, Weltmeister mit Brasilien 1994, über Zirkus-Fußball und die Revanche für das Finale 1998 gegen Frankreich

INTERVIEW OLIVER TRUST

taz: Herr Dunga, Brasilien steht im Viertelfinale und die Fans daheim murren. Was macht das Team falsch?

Carlos Dunga: Das Ergebnis ist in Ordnung. Weil wir die besten Spieler der Welt haben, erwartet jeder ein Spektakel. Aber hier geht es um ein langes Turnier und nicht um einen Schönheitspreis. Brasilien will Weltmeister werden. Da muss man mit kühlem Kopf spielen.

Ausgerechnet der Star, Ronaldo, kam lange nicht in Schwung. Es hieß, er sei zu dick?

Das lag auch an der Mannschaft, er hat nicht besonders viele Bälle bekommen. Jetzt hat er seinen Rhythmus gefunden und die Mannschaft wächst mit ihm. Beide Seiten brauchen einander.

Er wird ungerecht behandelt?

Das muss man so feststellen. In Brasilien ist Ronaldo das Aushängeschild. Egal was passiert, vor allem wenn es schlecht läuft, ist er der Schuldige. Das ist in Wahrheit natürlich nicht so, aber das scheint seine Rolle zu sein. Er muss es aushalten und die Last tragen.

Für viele scheint Ronaldo mit 29 am Ende seiner Laufbahn.

Er wird noch lange spielen. Man hat jetzt schlecht über ihn gesprochen, aber er hat die Kritiker widerlegt, indem er Gerd Müllers WM-Rekord gebrochen hat. Wir werden an ihm noch viel Freude haben. Man muss sehen, er hat den Rekord gebrochen, obwohl die Spiele nicht besonders gut waren. Er kann nicht jede Minute Dinge tun, die wie im Zirkus aussehen.

Für viele ist der junge Robinho eine Alternative zu den etablierten Stars. Er scheint der Einzige zu sein, der sich ausreichend bewegt.

Er ist schnell, weil er jung und leicht ist. Im Moment baut er Muskulatur auf, um die notwendige Kraft zu haben, und er gewinnt langsam an Erfahrung, auch bei seinem Klub Real Madrid. Fest steht, er braucht noch Zeit für den Durchbruch.

Auch Ronaldinho scheint unter dem statischen Spiel zu leiden?

Das sehe ich nicht so. Die gesamte Mannschaft brauchte lange, um in Schwung zu kommen. Am Anfang gab es im Angriff praktisch vier Spieler, jetzt sind es nur noch zwei und deshalb gibt es mehr Platz. Vorher war es zu eng.

Hauptkritikpunkt aber ist, Brasilien sei nicht in der Lage ein Joga bonito aufzuziehen, ein schönes Spiel?

Die Erwartung ist enorm hoch, die Mannschaft wird überall wie eine Artistentruppe präsentiert. Vom Fernsehen, von der Werbung. Aber der Sieg ist wichtiger als das Spektakel. So schlecht sieht die Sache nicht aus. Die Zahlen sprechen für sich. Zehn geschossene Tore bei einem Gegentor. Das halte ich für eine gute Bilanz. Man musste in keinem Spiel wirklich nervös sein. Beispiel Ghana. Die sind gerannt und gerannt und wir waren dreimal vor dem Tor und haben dreimal getroffen. In Brasilien sagen wir über Ghana: viel Rauch und wenig Feuer.

Ist Brasilien mit dem nüchternen Stil gut genug, um Weltmeister zu werden?

Deutschland, Argentinien und Italien können gewinnen. Ich setze auf Brasilien, weil wir die besten Spieler haben.

Günter Netzer hat gesagt, die alten Spieler hemmen Brasilien.

Das glaube ich nicht, sie haben uns zur WM gebracht. Cafu, Ronaldo und Roberto Carlos spielen besonders gut. Je mehr man Ronaldo ärgert, desto härter schlägt er zurück.

Das heutige Viertelfinale ist die Wiederauflage des Finales von 1998, in dem Sie damals spielten und Brasilien 0:3 unterlag.

Wir haben 1998 nie die Leistung von 1994 gebracht, als wir Weltmeister wurden. Wir haben gedacht, wir könnten einfach an die Leistung in den USA anknüpfen, aber das war ein Trugschluss. Das war eine bittere Erfahrung. Es ist besonders hart, ein Finale zu verlieren. Glauben Sie mir, es ist sicher kein Trost, zweimal in Folge ein Endspiel erreicht zu haben.

Einige Experten sehen auch in Frankreichs Mannschaft ein Generationenproblem?

Diese Alten haben Frankreich zur WM gebracht und stehen jetzt im Viertelfinale. Wenn es darauf ankommt, übernehmen just diese Alten das Ruder und lösen die Probleme.

Das gilt auch für Zinedine Zidane?

Er ist einer der Besten der Welt, einer mit Gewinnermentalität und Intelligenz, ein vollkommener Spieler.

Viele Weltmeister der Franzosen von 1998 spielen heute noch. Gibt es Unterschiede zwischen den Teams der Franzosen?

Die Basis ist dieselbe geblieben. Thuram, Zidane – es sind immer noch große Spieler. Was ihnen heute fehlt, ist das ungeheure Selbstvertrauen, das sie damals hatten.

Das allein hat ihnen den Titel gebracht?

Sie haben im eigenen Land gespielt und ihnen war wohl bewusst, welch einzigartige Chance sich ihnen bietet. Das geht vielleicht auch der deutschen Mannschaft so.

Und heute?

Ihre Defensive ist eine der stärksten. Das Hauptproblem ist, da durchzukommen. Der Angriff ist schwächer.

Brasilien schafft es trotzdem?

Die Leistungsträger haben ihre volle Stärke noch nicht erreicht: Ronaldo, Roberto Carlos und Ronaldinho. Der Rest der Mannschaft darf sich nicht hinter ihnen verstecken. Brasilien passt sich seinen Gegnern an, deshalb haben wir noch nicht das Maximum gesehen.

In Brasilien wird das als Bürokratenfußball gebrandmarkt.

Die meisten Spieler agieren in ihren Clubs stärker, als sie es bei der WM gezeigt haben. Sie müssen noch mehr als Mannschaft auftreten. Aber das Team spielt sehr bewusst, aber noch nicht als Einheit. Bis jetzt wurde noch zu viel gelaufen, weil die einzelnen Positionen nicht gut miteinander harmonieren. Aber Brasilien kommt in Schwung, wir werden seine Stärke noch erleben, davon bin ich überzeugt.

Noch ein Wort zur deutschen Mannschaft. Trägt das Team nur die Euphorie oder steht mehr dahinter?

Die Deutschen spielen einen wettbewerbsfähigen Fußball und haben sich mit jedem Spiel gesteigert. Die Fans sind begeistert. Aber es ist auch eine Tatsache, dass man vom deutschen Team nicht so viel erwartet hat. Umso größer war jetzt die Euphorie.