Fragmente von unterwegs

FRONTIER Die Seele der USA liegt auf der Straße: der Storyband „Drehtage“ von Sam Shepard

In der Romantik war gerade das Fragment die adäquate Form, um Grenzenlosigkeit abzubilden

Highways sind für Sam Shepard die Lebensadern des in die Jahre, stellenweise auch schon ziemlich heruntergekommenen, aber immer noch ruhelosen US-Gesellschaftskörpers. Und Shepard – der als Schauspieler und Dramatiker eigentlich viel bekannter ist – inszeniert sich in seinem Erzählband „Drehtage“ als der literarische Anatom dieses komplexen Organismus. Er skizziert dessen Blutkreislauf in Form einer fiktionalen Straßenkarte. An jeder angepinnten Nadel hängt eine Geschichte.

Jack Kerouacs „On the Road“ ist die eindeutige Referenzgröße dieses literarischen Fahrtenbuchs. Aber Shepard erweitert dessen Konzept, atomisiert die geschlossene Ich-Perspektive, um – wenn auch fragmentarisch, lückenhaft – so etwas wie ein kollektives Charakterogramm eines Landes zu umreißen, das immer noch unterwegs zu sein scheint.

Der Frontier-Mythos, glaubt Shepard, ist immer noch lebendig. Die mentale Disposition des Migranten ist diesem Land wie ein genetischer Code eingeschrieben: Ungeduld, Abenteuer- bzw. Eroberungslust, ein gelegentlich über Leichen gehender Opportunismus, zugleich aber auch eine unmittelbare Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft für Menschen in Not.

Tatsächlich sind hier alle immer in Bewegung. Der kaltblütige Auftragskiller, der Rechenschaft ablegt, am Ende vielleicht sogar seine Sünden bereut. Die drei Freunde, die es noch einmal richtig krachen lassen, auf Speed und LSD. Der Folkblues-Aficionado, der schier verzweifelt an der unerreichten Größe der Alten. Der alternde, desillusionierte, demenzkranke Schauspieler, der fast vergessene Erinnerungsorte aufsucht. Das sind längst nicht alle Geschichten, Porträts, Skizzen und inneren Monologe, die Shepard hier zu einem buntscheckigen Bild montiert.

Einige, wenn auch nicht alle Erzählsplitter gehören offensichtlich zusammen. Es sind Fortsetzungen einer größeren Geschichte. Man muss ihre Kohärenz allerdings selbst herstellen. Shepard fordert den Leser auf, die von ihm angebrachten Nadeln auf der Straßenkarte mit eigenem Garn zu verbinden, um dem weiteren Streckenverlauf seiner Protagonisten folgen zu können. Das macht die Lektüre etwas mühsam, weil jedes noch so kleine Textfragment eine Reprise sein könnte und man also immer wieder gezwungen ist zurückzublättern. Andererseits entsteht so aber auch eine schöne Spannung, die tatsächlich nicht der Handlung – es passiert nicht gar so viel, wenn man im Auto, Diner oder Motel sitzt –, sondern dem ästhetischen Arrangement geschuldet ist. Man schreibt an diesem Buch mit.

Shepard macht den Leser zu einer Art Koautor. Aber das überfordert ihn gelegentlich auch. Viele vor allem der ganz kurzen, eher lyrischen Skizzen sind einfach zu elliptisch, um sie mit dem Textgewebe verbinden zu können. Man versteht so vieles einfach nicht. Und benötigt zwischendurch schon ein gewisses Maß an Beharrlichkeit und Gewogenheit, um nicht auszusteigen aus dem Spiel.

Zumal Shepards Straßenkarte Fragment bleibt. Bleiben muss – angesichts des Anspruchs, so etwas wie einen Grundriss des zeitgenössischen Amerikas zeichnen zu wollen. Das ist gar kein Widerspruch. In der romantischen Ästhetik ist gerade das Fragment die adäquate Form, Grenzenlosigkeit und Wandelbarkeit des Lebens abzubilden, weil es keine Abgeschlossenheit vortäuscht, wo es keine gibt.

„Day out of Days“ ist das Buch im Original betitelt, ein Begriff aus der Filmsprache, der eine Gesamtübersicht der bei einer Produktion beteiligten Schauspieler mit ihren jeweiligen bezahlten Drehtagen bezeichnet. Der eine hat eine größere, der andere eine kleine Rolle, aber alle sind sie ein notwendiger Bestandteil dieses Films. Shepards Herz, auch das spricht für dieses Buch, schlägt wie immer für die Statisten.FRANK SCHÄFER

Sam Shepard: „Drehtage“. Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. Fischer, Frankfurt a. M. 2013. 319 Seiten, 19,99 Euro