Evo Morales will mehr politischen Spielraum

Morgen entscheidet Boliviens Bevölkerung über Provinzautonomie und wählt eine verfassunggebende Versammlung

PORTO ALEGRE taz ■ „Ich fühle mich als Gefangener der neoliberalen Gesetze“, gestand Evo Morales vor Monaten in einem Interview. Am Sonntag wird sich zeigen, ob Boliviens Präsident seine Spielräume erweitern kann: Dann nämlich wählen seine Landsleute 255 Abgeordnete der verfassunggebenden Versammlung, die ab dem 6. August in der Hauptstadt Sucre tagen wird.

Landauf, landab verkündete der indigene Staatschef, seine „Bewegung zum Sozialismus“ (Mas) strebe über 70 Prozent der Stimmen an, um die „Neugründung Boliviens“ fortzusetzen und dabei vor allem die Teilhabe der ausgegrenzten Bevölkerungsmehrheit an den Staatsgeschäften zu sichern. Doch selbst ein solches Ergebnis würde nicht die für weitgehende Reformen erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit garantieren, da der komplizierte Abstimmungsmodus den zweitplatzierten Parteien entgegenkommt.

Zur Abschlussveranstaltung in der Mas-Hochburg Cochabamba am Donnerstagabend reiste Morales direkt aus Buenos Aires an. Im Gepäck hatte er ein neues Gasabkommen, das Millionen in die Staatskasse spielen wird: Mit seinem argentinischen Kollegen Néstor Kirchner einigte er sich auf eine Preiserhöhung von 3,38 auf 5 Dollar pro Million BTU (British Thermal Units, etwa 28 Kubikmeter) und eine schrittweise Erhöhung der täglichen Liefermenge von 7,7 auf 27,7 Millionen Kubikmeter. „In fünf Monaten an der Regierung kann man nicht alles machen“, hatte Morales verkündet, „durch die verfassunggebende Versammlung werden wir alle natürlichen Ressourcen zurückgewinnen.“

In Cochabamba rief er: „Ich brauche eure Unterstützung beim Umgang mit Provokationen und Einschüchterungen, die Multis schlafen nicht. Identifiziert die Vaterlandsverräter.“ Und er forderte seine Zuhörer auf, bei der gleichzeitig stattfindenden Volksabstimmung über eine größere Autonomie der neuen Provinzen mit „Nein“ zu stimmen: Jene „mafiösen Unternehmer“ und „Parasiten“, die bis zu den letzten Wahlen den Staat gemolken hätten, wollten jetzt die Provinzregierungen melken, sagte er mit Blick auf die weiße Oberschicht in der östlichen Provinzhauptstadt Santa Cruz. Dort sorgen vor allem seine Pläne für eine Landreform im fruchtbaren, vom Agrobusiness dominierten Tiefland für Unruhe.

„Man beschuldigt uns des Separatismus und der Fremdenfeindlichkeit“, sagt Rubén Costas, der Gouverneur von Santa Cruz, der in Morales' Umfeld „fundamentalistische Gruppen“ ausmacht. Die „demagogischen“ Nationalisierungen der Regierung würden nur mehr Elend und Ungleichheit bringen, sagt Cruz.

Mit der Interpretation des Referendums scheint der nächste Konflikt programmiert: Die Mas sieht das landesweite Ergebnis als verbindlich an, die Opposition hingegen würde aus regionalen „Ja“-Mehrheiten ein Mandat für die Autonomie in einzelnen Provinzen ableiten. In jedem Fall müsste die verfassunggebende Versammlung darüber befinden.

GERHARD DILGER