Dabeisein ist alles

Bei der Fußball-WM hissten auffällig viele Migranten das schwarzrotgoldene Banner. Das offenbart eine neue Chance für eine zukunftsweisende Integrationsdebatte

Vom DFB lernen heißt: Wir brauchen mehr Migranten als Lehrer, bei der Polizei und in den Medien

Wer sich nach dem Sieg der deutschen Nationalmannschaft am Wochenende ins Zentrum einer x-beliebigen westdeutschen Großstadt begab, der konnte sehen, wie sehr sich Deutschland in den letzten Jahren verändert hat. Auf den ersten Blick erweckt der schwarzrotgoldene Fahnenjubel den Eindruck von Uniformität. Auffällig ist jedoch, wer so alles das schwarzrotgoldene Banner schwenkt. Schon zu Beginn der WM waren türkische Dönerbuden und arabische Wasserpfeifencafés in Schwarzrotgold geschmückt, auf der Straße begegnete man asiatisch aussehenden Jugendlichen im Deutschlandtrikot oder kleinen Türkenjungs mit schwarzrotgoldenen Streifen auf der Wange, und bei manchem Autokorso sah man sogar Kopftuchträgerinnen euphorisch die deutsche Fahne schwenken. Was ist da bloß passiert?

Dass eingeborene und eingewanderte Deutsche unter den deutschen Farben so einträchtig zusammenfinden, sollte für die Integrationsdebatte zu denken geben. Es zeigt nicht nur, was für ein einigendes Band dieser Fußballpatriotismus sein kann. Sondern auch, wie sehr es in Deutschland ansonsten an solchen eingespielten Formen fehlt, um seine Zugehörigkeit zu diesem Land zu demonstrieren. Jenen Deutschen, die schon seit Generationen in diesem Land verankert sind, mag das überflüssig oder gar lästig erscheinen. Für Einwanderer aber sind solche Gesten der Teilhabe unerlässlich, will man nicht ewig unter dem Verdacht stehen, nicht so recht dazuzugehören. Auch in Sachen Integration gilt schließlich: Dabei sein ist alles.

Die britische Immigrantenzeitschrift Second Generation machte einmal mit einem Cover auf, das ein indischstämmiges Mädchen im „Union Jack“-T-Shirt zeigte. In Frankreich nahm die Immigrantencombo Carte de Séjour als Reaktion auf den Aufstieg der rechtsextremen Front National eine arabisch angehauchte Version von „Douce France“ auf, einem patriotischen Chanson aus der Résistance-Zeit, das in Frankreich jedes Kind kennt. Und erst kürzlich spielten Latino-Musiker in den USA eine spanische Version der US-Nationalhymne ein – aus Solidarität mit jenen illegalen Einwanderern, die in den letzten Monaten in vielen US-amerikanischen Städten für ihre Bürgerrechte auf die Straße gingen. Durch die Adaption kollektiver Symbole machen Immigranten deutlich, dass sie dazugehören wollen.

Der Bezug auf nationale Symbole ist dabei zentral, weil es in individualisierten Konsumgesellschaften nicht mehr allzu viel gibt, was sie überhaupt noch zusammenhält. Gewerkschaften, Parteien und Kirchen haben ihre kollektive Bindungskraft eingebüßt, die Gesellschaften zerfallen immer mehr in Parallelwelten, subkulturelle Milieus und Lebensstil-Gemeinschaften. Doch auch eine Gesellschaft, die immer mehr ausdifferenziert, lebt nicht allein von der Normenbindung und der Gesetzestreue ihrer Bürger, sondern auch von einer gewissen Gefühlsbindung. Man darf das auch Patriotismus nennen.

Auch Einwanderer haben eine affektive Bindung an ihre neue Heimat: Der eine mag den Schwarzwald, der andere schätzt die deutsche Literatur oder den deutschen Rechtsstaat, und der dritte eben den deutschen Fußball. Viele würden das gerne auch symbolisch zum Ausdruck bringen. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich nicht wenige Migranten von den Deutschen ein bisschen mehr Patriotismus wünschen – einen aufgeklärten, weltoffenen und inklusiven natürlich, keinen rassistisch-bornierten. Dann wäre endlich klar, in was sie sich integrieren sollen: Nicht in eine ominöse „Leitkultur“ zwischen Lederhose und Love Parade. Sondern in ein Land und sein politisches System, zu dem man sich bekennen kann.

Patriotismus war schon immer ein wichtiges Mittel zur gesellschaftlichen Integration, für klassische Einwanderungsländer wie die USA gilt das im besonderen Maße. Das amerikanische Modell könnte Pate stehen für die Herausbildung eines neuen, modernen und ethnisch neutralen Patriotismus in Deutschland. In den USA ist man schnell ein gleichberechtigter Bürger, wenn man nur den Schwur auf die Verfassung geleistet und sich zu den amerikanischen Werten bekannt hat: Dann stehen Integration und sozialem Aufstieg nichts mehr im Wege. Ob man sich dann zu Hause die polnische oder mexikanische Fahne übers Bett hängt oder in Synagoge oder Moschee geht, ist zweitrangig.

Besser als diskriminierende Einbürgerungstests oder fruchtlose Assimilationsforderungen wäre es deshalb, auch hierzulande an solch einem Patriotismus zu arbeiten. Dazu müsste die Linke allerdings erst lernen, ihre Schwarzrotgoldphobie zu überwinden – und die Rechte, von ihrem überkommenen Volksgemeinschaftsdenken abzurücken, wonach ein Deutscher nur der sein kann, der schon über deutsche Eltern verfügte. Trotz der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist dieses Denken leider noch weit verbreitet.

Falsch wäre es deshalb, sich aufgrund mitjubelnder Migranten bei der Fußball-WM nun in eitler Selbstzufriedenheit zurückzulehnen und zu glauben, in Deutschland sei alles tutti, wie Berufspatrioten wie Matthias Matussek glauben machen wollen. Denn diese Liebeserklärung der Migranten war – gerade nach der unsäglichen, von Misstrauen geprägten Integrationsdebatte der letzten Monate – nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Die Mehrheitsgesellschaft muss deshalb, im eigenen Interesse, noch mehr für die Integration im Sinne gleichberechtigter Teilhabe tun: So, wie es der DFB in den letzten Jahren durch verbesserte Nachwuchsarbeit getan hat. Kurz gesagt: Wir brauchen mehr Migranten als Lehrer und Polizisten, in den Medien und den öffentlichen Einrichtungen. Wann wird es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen einen türkischstämmigen Nachrichtensprecher geben, wann einen dunkelhäutigen Minister? Dann, so viel ist sicher, entwickelt sich der Patriotismus unter Einwanderern von selbst.

Beim Patriotismus weiß man, wie man sich integrieren soll. Bei einer ominösen Leitkultur nicht

Dieser Patriotismus bedeutet keine Relativierung der Vergangenheit, im Gegenteil: Die Erinnerung an den Holocaust und die Verantwortung, die daraus erwächst, ist unverrückbarer Bestandteil deutscher Identität geworden. Die Soziologin Viola Georgi hat in einer Studie festgestellt, dass sich auch Einwandererkinder dieser Verantwortung stellen und mit diesem Teil der deutschen Geschichte identifizieren, ja dass die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust ein wesentliches Merkmal ihrer Integration ist.

Vor einem neuen Patriotismus muss man deshalb keine Angst haben. Nicht nur, weil er mit albernen Hüten und schwarzrotgelben Papiergirlanden verspielt und vergnügt, und nicht so verbissen und bierernst daherkommt wie einst unter Helmut Kohl. Sondern auch, weil er sich wandlungsfähig und weltoffen zeigt. Die Tradition des fahnenschwenkenden Autokorsos haben die Deutschen jedenfalls erst von den Türken und Italienern übernommen.

Für beinharte „Deutschland den Deutschen“-Nationalisten muss diese Entwicklung ein Graus sein: Jetzt nehmen ihnen die „Ausländer“ auch noch die Fahne weg. DANIEL BAX