„Akt der Befreiung“

AUS RAMALLAH SUSANNE KNAUL

Vor dem Militärgericht in der jüdischen Siedlung Ofra, nahe Ramallah, warten rund hundert Palästinenser auf das Urteil für ihre inhaftierten Angehörigen. Populärster Häftling ist Achmad Saadat, Generalsekretär der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Laut Anklage ist er für den Mord an einem israelischen Minister verantwortlich. Ihm droht lebenslänglich. Es sei denn, es gelingt seinen Landsleuten, ihn durch einen Gefangenenaustausch freizupressen.

Saadats Frau Abla und eine Tochter sitzen als einzige Besucher in dem spartanischen Verhandlungsraum des Armeelagers. „Wie geht es dir“, ruft Abla ihrem Mann zu, der strahlt, als er die beiden entdeckt. „Die Entführungen sind für uns der einzige Weg, unsere Gefangenen freizubekommen“, sagt Abla Saadat, die auf erfolgreiche Verhandlungen über den vor einer Woche entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit hofft.

Die Operation von Guerillas mehrerer Bewegungen, bei der zwei israelische Soldaten ums Leben kamen und Schalit in Geiselhaft fiel, nennt Abla Saadat einen „Akt des Befreiungskampfes“. Die internationale Kritik daran versteht sie nicht: „Als die Israelis meinen Mann entführten, hat die Welt geschwiegen.“

Die anfängliche Forderung der Entführer konzentrierte sich auf die Frauen und Minderjährigen, die in israelischen Gefängnissen einsitzen. Dabei ging es um rund 400 Häftlinge. Am Wochenende kursierte schon die Zahl von 1.000 Inhaftierten, die die Geiselnehmer für einen Tausch gegen den israelischen Gefreiten verlangen. Jerusalem hatte in der Vergangenheit wiederholt viel Geld für entführte Israelis gezahlt.

„Ich war nicht glücklich über die Operation“, sagt Nadia Radweh, die in Ofra auf die Verhandlung ihres Sohnes wartet. Seit vier Monaten sitzt Hussam Mohammed Radweh hinter Gittern und musste dort auch seinen 18. Geburtstag feiern. Nach der Entführung von Gilad Schalit wurden alle Besuche gestrichen. Außerdem mussten die Häftlinge ihre Radios und Fernseher abgeben. Inzwischen hofft auch Nadia, dass ihr Sohn unter den Palästinensern sein wird, die gegen Schalit ausgetauscht werden.

In Ramallah ist von Kritik gegen die Operation der Guerillas nichts zu hören. Und das, obschon die Woche seit Beginn der Geiselaffäre von Gegenangriffen geprägt ist: Militärinvasion im Gaza-Streifen, Bombardierung der Infrastruktur und komplette Abschottung des Südens sowie Verhaftungen von über 60 Hamas-Mitgliedern, darunter Minister und Parlamentarier.

Seit Tagen liegen die Regierungsgeschäfte brach, das Parlament ist geschlossen. Von den 132 Abgeordneten sitzen 31 hinter Gittern. Auf den Stühlen der schon länger Inhaftierten stehen deren lebensgroße Fotos. die der später Verhafteten sollen folgen.

Erst in der Nacht zu gestern hatten die Soldaten bei der Suche nach Hinweisen auf das Versteck der Geiselnehmer das Büro der Hamas-nahen Zeitschrift Manbar al Islah gestürmt und Akten und Festplatten konfisziert. Chefredakteur Dschasir Hadr sitzt in seinem verwüsteten Büro und schimpft auf die Besatzer, die „Unschuldige bombardieren und die Palästinenser kollektiv bestrafen“.

Der regierungstreue Journalist glaubt fest daran, dass Schalits Freilassung einen hohen Preis haben wird. Schließlich sei das schon in der Vergangenheit gelungen. Die Methode müsse anschließend fortgesetzt werden, bis alle „unsere zehntausend Entführten“, alle palästinensischen Häftlinge, auf freiem Fuß sind. Was Schalit angeht, so sollten „seine Entführer über den Handel entscheiden“. Die Unterstützung des Volkes ist ihnen sicher: „Alle Palästinenser solidarisieren sich mit den Häftlingen. Es gibt keine einzige Familie, die nicht einen Angehörigen hinter israelischen Gittern hat.“