HAMBURGER SZENE VON KLAUS IRLER
: Äußere Werte

Es ist nichts Neues, dass Menschen über 30 Rockkonzerte besuchen. Es ist auch nichts Neues, dass Musiker über 30 Jahre alt werden, ehe sie Erfolg haben. Die Menschen über 30 gehen dann zu den Konzerten von den Bands über 30 und damit wäre alles gesagt. Wenn nicht manchmal doch etwas Neues passieren würde. Etwas Neues wie zum Beispiel Tageslicht.

Tageslicht gibt es im Hamburger Sommer lange. Wenn also eine Band wie The National mit ihren Ü-30 Musikern am Donnerstagabend um 20 Uhr ihr Konzert auf der Freiluftbühne des Stadtparks beginnt, ist es hell. Die Band sieht, wer da im Publikum steht. Das Publikum sieht, wer da auf der Bühne steht. Das Publikum sieht, wer im Publikum ist. Der gewohnte Schutz der Dunkelheit, den Rockkonzerte im Club mit sich bringen, ist weg. Jeder sieht jeden.

Wir sehen Menschen mit Hornbrillen, mit nachlässig geschnittenen Haaren und Hemden, die über die Hosen fallen. Wir sehen sie Filterzigaretten rauchen und sanft mitwippen. Wir sehen sie applaudieren mit melancholischem Blick. Und wir sehen ihre Bauchansätze, die sich unter den Hemden wölben.

Das mit den Bauchansätzen sehen wir auch auf der Bühne und finden es sympathisch. The-National-Sänger Matt Berninger hat keinen Bauchansatz, muss aber noch etwas zur Situation sagen. Dass er es nicht gewohnt sei, bei einem Konzert das Publikum so gut zu sehen, sagt er. Pause. Und dann: „You look nice!“ Tatsache. „You look nice!“

Wir übersetzen „nice“ mit „schön“, klopfen uns auf die Schultern und schauen uns nochmal um. Da setzt lautlos aber bestimmt die Dämmerung ein. Schade eigentlich.