Jenseits der Creditpoints

BÜHNE Große Emotionen im akademischen Rahmen: Aus einer Lehrveranstaltung heraus hat sich an der Universität der Theaterverein InCognito gegründet. Derzeit spielt er Dea Loher

Trotz der geringen Förderung existieren neben dem Theater InCognito (TIC) weitere feste Gruppen. Während das TIC, angesiedelt bei den General Studies als einzige Theatergruppe fächerübergreifend wahrgenommen wird, sind die anderen Gruppen vornehmlich bei einzelnen Sprachinstituten angedockt.

■ Neben der English Drama Group und der relativ selten auftretenden Französischen Theatergruppe gibt es als Sonderfall das russischsprachige Theater unter Leitung von Semjon Arkadjewitsch Barkan. Der mittlerweile 94-jährige Regisseur war früher Leiter einer Moskauer Theaterschule. Die Aufführungen seines Theaterstudios finden ihr Publikum vor allem bei den russisch-sprachigen jüdischen Gemeinden Norddeutschlands.

■ Das Theater der Versammlung wiederum verfolgt vornehmlich einen didaktischen Ansatz und ist Teil der Ausbildungsmodule für Darstellendes Spiel im Rahmen der Lehramtsausbildung.

■ Das Stück „Unschuld“ ist am heutigen Samstag sowie am Dienstag, jeweils um 20 Uhr, im Theatersaal an der Universität zu sehen. Er liegt direkt an der Haltestelle Universität/Zentralbereich, der mit der Straßenbahnlinie 6 zu erreichen ist. HB

Von HENNING BLEYL

Am Anfang steht der Theaterdonner. Franz Eggstein ist erbost, zwei seiner Spieler sind noch nicht eingetroffen. Seit einer halben Stunde sollte die Hauptprobe laufen, am Abend hat „Unschuld“ von Dea Loher im Theatersaal der Universität Premiere. Immerhin ist nicht Winter, dann tropft es hier schon mal von der Decke. Studententheater hat eben seine speziellen Tücken, denkt der unbeteiligte Beobachter. Man wartet. Dann aber spielen sie. Und wie.

Jonathan Jung beispielsweise ist der farbige Fadoul, der als Papierloser in einer einsturzgefährdeten Investitionsruine am Strand lebt. Man ist beeindruckt, wie locker und sicher der Student seinen umfangreichen Part auf die Bühne bringt. „Unschuld“ handelt von randständigen Existenzen, deren Schicksale sich in skurrilen, im Kern jedoch realistischen Szenen zu verweben beginnen. Fadoul lernt Absolut kennen, eine blinde Stripperin – und die Zuschauer in ihr Lu Zhang, eine Studentin der Kulturwissenschaften aus China, die ihre dialektisch angelegte Rolle in berührender Weise füllt. Dazu trägt auch die zarte Explizitheit bei, mit der sie ihr unperfektes Deutsch über die Rampe bringt.

Universitätstheater kann mittlerweile in Creditpoints abgerechnet werden. Für „Unschuld“ gibt es neun davon, „aber der Jonathan braucht schon lange keine Punkte mehr“, sagt Eggstein. Er selbst ist formal gesehen Lehrbeauftragter – und zum Glück ebenfalls nicht auf die damit einhergehende, ohnehin geringe, Dotierung angewiesen. Die Theateraktivitäten an der Universität sind strukturell nicht gerade überfördert, an der Bremer Hochschule sieht das schon anders aus. Wobei auch eine Rolle spielt, dass die Uni-Professur für Theaterwissenschaften nach der Emeritierung von Jörg Richard vor drei Jahren nicht neu besetzt wurde.

Eggstein also arbeitet den kleineren Teil der Zeit, die er in „Unschuld“ steckt, bezahlt. Auch Sachmittel für die Theaterarbeit, für Ausstattung, sind kaum zu bekommen. Praktischerweise verdient Eggstein sein Geld als Rennleiter, als Coach in der Formel Renault-Klasse. Der Autorennsport als Sponsor für Theaterregie ist ein Glücksfall.

Um auch andere Kosten künftig besser decken zu können, hat die derzeit 18-köpfige Theatergruppe einen Verein gegründet – kein allzu üblicher Vorgang unter Studierenden, die sich ja in einer eher volatilen Lebensphase befinden. Doch so sei es leichter, Zuwendungen zu akquirieren, erklärt Lars Grochla, der unter anderem für die Technik verantwortlich ist. Er studiert digitale Medien und bringt sein privates Equipment in die Produktionen des Theater InCognito (TIC) ein. Bei „Unschuld“ gibt es unter anderem großflächige Projektionen von Meeresküsten und Wellenspiel.

Auf der Bühne, wo – ganz analog – eigentlich drei Tonnen Sand liegen sollten, absolviert Dana Höppenstein gerade einen Kondolenzbesuch. Nach einigen Minuten und ebenso vielen durchgeknallten Monologen hat man heraus, dass sie die Mutter eines Amokläufers zu sein scheint – die gerade die Eltern eines der Opfer besucht. Einige Szenen später weiß man, dass sich diese Frau Habersatt gern fremde Gefühle und existentielle Zwangslagen – auch fremde Schuld – aneignet, eine Katastrophentouristin der besonderen Art. Die Art, wie sich Höppenstein in die Psyche dieser Figur einfindet, ist ebenfalls besonders – sehenswert.