Chronik eines nicht angekündigten Todes

Ein 15-jähriger Junge hat in Hamburg eine alte Frau getötet. Nun fragen Politiker nach der Verantwortung. Hat die Polizei genug getan? Hätte man das grausame Verbrechen vielleicht verhindern können? Die Antwort ist: leider nein

Von Elke Spanner

Es wäre tröstlich, einen Schuldigen zu finden. Jemand, der dafür verantwortlich zu machen ist, dass der erst 15-jährige Phil-Jonathan W. vorige Woche in Hamburg die 81-jährige Lieselotte G. tötete. Denn hat einer einen Fehler gemacht, dann lautet der Umkehrschluss, dass eine solche Tat sich nicht mehr wiederholen kann, wenn niemand mehr diesen Fehler begeht. Doch so einfach ist es in diesem Fall leider nicht. Sicher ist in der Erziehung des Jungen einiges schief gelaufen: Er lebte auf der Straße, nahm Drogen, fiel immer wieder mit Straftaten auf. Und dennoch: Schuld am Tod der Rentnerin hat derzeitigen Erkenntnissen zufolge nur eine Person: Phil-Jonathan W.

Opfer und Täter waren gut miteinander bekannt. Die 81-Jährige hat den Jugendlichen durch ihre 18-jährige Enkelin kennen gelernt. Fortan war er häufig in ihrer Wohnung im bürgerlichen Stadtteil Eimsbüttel zu Gast. Phil-Jonathan übernachtete gelegentlich auch dort, denn die Alternative war für ihn lange Zeit die Straße. Die alte Frau hatte Mitgefühl mit dem Jungen, der nach Aussage seines Vaters „lieb, höflich, fast schüchtern“ sein soll – und den es früh aus der Bahn geworfen hat. Sie gab ihm auch immer wieder Geld. Ihre eigene Hilfsbereitschaft wurde ihr zum Verhängnis: Als Phil-Jonathan am 21. Juni wieder einmal bei der Rentnerin auftauchte, gerieten sie in Streit um Geld – „dann hab ich zugedrückt“ gestand Phil-Jonathan gegenüber der Polizei. Am Freitag wurde er nahe des Hamburger Hauptbahnhofes verhaftet.

Hätte man es hier mit einem bekannten Gewalttäter zu tun, wäre die Beurteilung einfacher. Dann ließe sich mit Berechtigung fragen, wer eigentlich in dem umstrittenen geschlossenen Erziehungsheim in der Hamburger Feuerbergstraße wohnt, wenn nicht ein Junge wie Phil-Jonathan W. Oder wieso die Polizei Ende Mai keine intensive Fahndung einleitete, nachdem der 15-Jährige aus der betreuten Einrichtung in Tatenberg abgehauen war, in der er zu der Zeit lebte. Nach Aussage von Polizeisprecherin Christiane Leven hat man seinerzeit wohl sämtliche bekannten Anlaufadressen des Jungen überprüft, alle bislang von ihm bewohnten Zimmer, seine Bekannten, Verwandten. Gefunden hat man ihn jedoch nicht.

Und so, wie der Fall lag, erschien das auch nicht als schwerwiegendes Problem. Natürlich gehört ein 15-Jähriger nicht auf die Straße, sondern in die Obhut von Erziehungsberechtigten. Ein Grund, ihn einzusperren, ist das aber nicht. Und Phil-Jonathan W. war eben kein aktenkundiger Gewalttäter. Der Fall liegt anders als beispielsweise bei den beiden Mördern des Lebensmittelhändlers Willy Dabelstein im Stadtteil Tonndorf, der vor wenigen Jahren in Hamburg die Debatte um die Wiedereinführung geschlossener Heime entfachte. Diese beiden jugendlichen Täter hatten damals schon zahlreiche Raubüberfälle hinter sich, bei denen sie auch Messer eingesetzt hatten. Phil-Jonathan W. hingegen ist zuvor kaum durch Gewalt aufgefallen – Diebstähle und Sachbeschädigungen gehen auf sein Konto. Es gibt nur eine Ermittlung wegen Körperverletzung gegen ihn, weil er einem anderen einen Faustschlag versetzt haben soll, wie Gerichtssprecherin Sabine Westphalen bestätigt. Und er hat einen Kiosk überfallen. Dabei aber, so Westphalen, habe er keine körperliche Gewalt angewandt, sondern nur gedroht – wenn auch mit einer Schreckschusspistole.

Es gab also weder Anlass noch Handhabe, den Jungen gegen seinen Willen irgendwo festzuhalten. Anfang des Jahres saß er wegen der Vorwürfe sogar einen Monat in Untersuchungshaft. Doch auch das erklärt sich nicht mit seiner Gefährlichkeit: Phil-Jonathan war im Gefängnis, um zu ermöglichen, dass über seine Straftaten überhaupt verhandelt werden kann – zu einem Prozesstermin im Dezember war er nicht erschienen. Ende März dann verfügte ein Jugendrichter, dass der 15-Jährige stattdessen in eine jugendgerechtere betreute Wohneinrichtung in Tatenberg kommen sollte. Diese Entscheidung wurde in den vergangenen Tagen seitens SPD und CDU hart kritisiert. Mit welchem Recht? Auch die Unterbringung in der betreuten Einrichtung diente allein dem Zweck, die Gerichtsverhandlung zu sichern. Mit anderen Worten: Wäre der 15-Jährige damals zu seinem Termin erschienen, wäre er die ganze Zeit in Freiheit gewesen. Und zwar zu Recht.

Der Hamburger SPD-Fraktionschef Michael Neumann hat am Wochenende die Frage aufgeworfen, wieso Phil-Jonathan W. nicht im geschlossenen Heim Feuerbergstraße war. Damit offenbart er keinen Mangel im System, sondern seine Unkenntnis desselben: In dieses Heim dürfen Jugendliche nicht zum Schutz der Allgemeinheit eingewiesen werden, sondern nur bei Gefährdung ihres „Kindeswohls“. Nach heutigem Kenntnisstand hätte Phil-Jonathan W. diese Voraussetzungen womöglich erfüllt, er war obdachlos und in der Drogenszene. Doch dass er überhaupt Drogen nahm, so Gerichtssprecherin Westphalen „war bisher nicht bekannt“.