: Osram und Rotaprint, Telefunken, AEG – ade
MAGAZIN Die neueste Ausgabe von „Der Wedding“ wirft einen offenen Blick auf Alltag und Arbeit auf dem schönen Wedding
VON TOBIAS NOLTE
Schreckgespenster, soweit das Klischee reicht. Hört man von Berlin-Wedding, dann zumeist nichts Gutes: Gewalt, Kriminalität, Ausländer gibt es da auch, und das nicht zu knapp, Arbeitslosigkeit, soziale Verwahrlosung. In WM-Zeiten konnte der Stimmungsmacher all dies in einem Namen bündeln: Kevin-Prince Boateng. Kaum ein Artikel über den zwischenzeitlichen Staatsfeind Nr. 1, ohne auch seine Sozialisation in Berlins Brennpunkt Nr. 1 zu erwähnen. Die Kollegen von der Welt etwa titelten: „Kevin-Prince Boateng, Ghetto-Kid aus Wedding“, ahnungslos, dass der Wedding mit bestimmtem Artikel auszustatten ist.
Wie man sich diesem Stadtteil annähern kann, ohne sich in Klischees zu verlieren, ohne aber auch die Augen vor seinen mannigfaltigen Problemen zu verschließen, beweist seit 2007 das einmal pro Jahr erscheinende Magazin für Alltagskultur Der Wedding. Zur Veröffentlichung der mittlerweile dritten Ausgabe luden dessen Macher am vergangenen Samstag zur Releaseparty – auf den Wedding. Der Weg zur Gottschedstraße führt durch Straßen, die den Begriff „Kiez“ – ganz im Gegensatz zu den meisten Ecken in Kreuzberg, Friedrichshain und im sogenannten Kreuzkölln – noch verdient haben. Hier ist nichts hip und modern, sauber schon mal gar nicht. In der Luft liegt der leicht faulig-süßliche Gestank mediterraner Länder und parfümiert die bisher wärmste Nacht des Jahres. Man muss nicht weit laufen, bis Menschen jeglicher Hautfarbe, Gesinnung, geografischer und sozialer Herkunft den Weg kreuzen. Über die Bewohner des Weddings hat noch kein Trend entschieden, höchstens der finanzielle Hintergrund.
Satellitenschüsseln überall
Die Releaseparty findet auf dem Vorhof des Ex-Rotaprint-Gebäudes statt, den man sich mit der Edelstahlbau und Handel GmbH Yilmaz teilt. Das Gelände ist umgeben von renovierungsbedürftigen Mietshäusern, auf jedem zweiten Balkon findet sich eine Satellitenschüssel. Hier wird Der Wedding produziert. Herausgegeben wird das Magazin von Axel Völcker, einem sympathischen Mann in den frühen Dreißigern, der gekleidet ist, als käme er direkt aus den 70ern.
Der Ursprung des Wedding liegt in Völckers Diplomarbeit. Hier entwickelte er das Konzept eines Magazins, das die Alltagskultur des Stadtteils widerspiegeln sollte. Im Verbund mit Chefredakteurin Julia Boeck wurde im Februar 2008 die erste handfeste Ausgabe des Wedding publiziert. Die Auflage von 5.000 Exemplaren ist heute restlos vergriffen, ähnlich erging es auch der zweiten Ausgabe des Magazins, für die man im März dieses Jahres sogar den Hamburger „Gute-Seiten-Award“ für das beste unabhängige Magazin des Jahres erhielt. Widmete sich die zweite Ausgabe dem Rahmenthema „Verwandtschaft“, so beschäftigt sich der neue Wedding mit allen Facetten von Arbeit. Was könnte im Wedding näher und doch ferner liegen?
Der ehemalige Arbeiterbezirk steht heute in der Arbeitslosenstatistik auf den vordersten Plätzen. Fabriken wie Osram, AEG, Rotaprint und Telefunken – einst die größten Arbeitgeber am Ort – haben längst die Tore geschlossen. Und die Bewohner sitzen auf der Straße. Um die Alltagsrelevanz des Themas für den Wedding zu erkennen, muss man nur die Augen öffnen. In der neuen Ausgabe des Magazins stößt man etwa auf die Geschichte der Kaptans, zweier Brüder, die ihren gemeinsamen Döner-Imbiss am Nauener Platz im Herbst 2009 wiedereröffnet haben. Nachdem sie 1993 schon einmal wegen mangelnder Umsätze schließen mussten, versuchen es Mehmet und Mustafa Kaptan nun noch einmal von vorn. Am Weg der Brüder lässt sich ablesen, was der Begriff Sisyphosarbeit meint.
An anderer Stelle gibt das Magazin Einblicke in verlorene Träume und verbliebene Wünsche unterschiedlicher Weddinger, vom Rentner über den Arbeitslosen bis zu Studenten und Künstlern. Was wollten sie einmal werden und was ist daraus geworden? Was passiert, wenn man Bettlern ihr Pappschild abkaufen will?
Die echte Gesellschaft
Es sind die kleinen Geschichten des Alltags, die Der Wedding abbildet, die „Suche nach dem Großen im Kleinen“, wie Chefredakteurin Julia Boeck sagt. Ist diese betonte Authentizität, die versuchte Abbildung einer pluralen und „echten“ Gesellschaft, aber nicht auch ein erster Schritt zur allerorts um sich greifenden Gentrifizierung? Da brauche man sich nichts vorzumachen, gibt Axel Völcker unumwunden zu. Dies seien Prozesse, die man nur schwer aufhalten könne, aber wenn man die Popularisierung des Bezirks schon beeinflusse, dann wolle man dies auf eine positive Art tun. Und hierfür müsse man sich mit der Lebenswirklichkeit und dem Alltag der alteingesessenen Weddinger auseinandersetzen, statt hippe Kiez-Romantik zu schüren. Bleibt zu hoffen, dass der Stadtteil sich seine Eigenwilligkeit bewahrt, denn dass die ersten Trend-Weddinger schon auf der Matte stehen, ist kein Geheimnis.
■ Auf dem Wedding 5 Euro, in Restdeutschland 6 Euro. Wer mit den Machern sprechen will, trifft sie heute auf dem Wedding Dress Festival. www.derwedding.de
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