MAN KANN TRINKEN, UM ZU LEBEN. KOMASAUFEN IST DAS GEGENTEIL DAVON
: Wir Trinker

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

In Niedersachsen steigt die Zahl der Komasäufer, meldet der NDR. Im Jahr 2000 gab es hier 4.000 dokumentierte Fälle von Alkoholvergiftung, im Jahr 2012 lagen schon 12.303 komatöse Trinker im Krankenhaus.

Statistisch gesehen ist der Alkoholmissbraucher unter zwanzig und ein Mann. Aber auch der Mann zwischen zwanzig und vierzig trinkt noch gern und selbst der Mann zwischen vierzig und fünfzig kriegt eine Alkoholvergiftungsstatistik hin, die die Frau ihm erst mal nachmachen muss.

Die Frau soll ja angeblich Wein trinken, zu Hause, neben dem Abwasch. Da trinkt sie dann so luschig vor sich hin, so weibisch und halbgar, dass sie sich meistens gar nicht richtig vergiftet, sondern nur Kater und Migräne davon kriegt. Sich richtig gefährlich vergiften, das kann der Mann am besten, weil der auch den Mut dazu hat.

Wandelt man an einem beliebigen Samstagabend über die Reeperbahn, dann kriegt man diese Statistik beispielhaft vorgeführt. Fröhliche junge Männer trinken mit anderen fröhlichen jungen Männern um die Wette.

Ich denke, man muss diesen Wettbewerb als historisch gewachsen sehen. Früher konnte der junge Urmensch sich nackt mit dem selbst zusammengenähten Speer auf einen Tiger stürzen und ihm den Körper aufschlitzen. Das war Mut, das hat ihn herausgestellt und wenn er überlebt hat, dann sind seine Chancen auf eine schicke Urfrau mächtig gestiegen.

Heute bleibt dem Jungmann so eine Möglichkeit nicht mehr. Aber heute kann er das Gaspedal herunterdrücken und zum Beispiel in der Nacht auf der Wandsbeker Chaussee so schnell fahren, bis die Reifen brennen. Oder er kann soviel Cola-Wodka in seinen Körper hineinschütten, wie geht.

Die Mutigsten unter ihnen kombinieren beides und fahren dann an der Wandsbeker Chaussee in Hamburg in der Nacht in Schaufensterscheiben hinein. Das Ganze kommt ungefähr an die Gefahr – nackt einen Tiger mit einem selbst zusammengenähten Speer zu erlegen – heran. Nur springt hierbei kein Essen heraus.

Aber ich trinke ja auch. Wir alle trinken, Trinken ist normal, wer nicht trinkt, ist irgendwie blöd. Neben dem, der nicht trinkt, will auf der Betriebsweihnachtsfeier keiner sitzen. Trinken hat Tradition. Trinken tun alle interessanten Menschen. Kommissare in Büchern und Filmen trinken, Rockstars trinken, im Fernsehen wird getrunken, was das Zeug hält. Und wenn das alte Jahr zu Ende geht, dann MUSS man trinken, sonst fängt das Neue Jahr gar nicht an.

Warum wir trinken? Ich zum Beispiel will davon nicht sterben, aber ich nehme es schon ein bisschen in Kauf, ich sehe es auch als eine Haltung gegen die kapitalistische Selbstoptimierung, dem Körper schaden, sich hingeben, sich gehenlassen.

Ich hatte gute Erlebnisse, betrunken, halb betrunken und auch ein paar nicht so gute. Wenn ich trinke, dann rede ich viel und ungebremster und unkontrollierter als sonst. Ich bin weit geöffnet für die Welt und irgendwann dann albern, aber auch das ist eine Art von Öffnung. Ich denke, so ist Trinken, um zu leben. Komasaufen ist das Gegenteil davon, das ist im Grunde, und in der Tendenz, Trinken, um zu sterben.

Ich finde es o. k., an Grenzen zu gehen und was zu riskieren, meinetwegen auch das eigene Leben, besonders wenn man jung ist und nicht weiß, wo das Ich aufhört und die Welt anfängt, aber doch nur in Liebe oder in Traurigkeit oder in Wut, in diesen ganz großen Gefühlen.

Aus Überwältigung vom Leben das Leben riskieren, das kann ich verstehen, aber Schnelltrinken um Erster zu sein, sich einem Wettbewerb der Anderen zu stellen, die die Regeln vorgeben, das heißt, den Kapitalismus in sich selbst aufnehmen. Das heißt, das Trinken verraten. Für eine eingepullerte Hose und einen vollgebrochenen Pullover.Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen