Das Meer will Land sehen

Vor 20 Jahren ist der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer eingerichtet worden. Jetzt setzt ihm der Klimawandel zu. Die Salzwiesen werden von den immer höher steigenden Fluten und vom Deichbau in die Zange genommen

aus Friesland GERNOT KNÖDLER

Der Queller macht sich gut als Beilage zum Lamm. Das dralle hellgrüne Pflänzchen sieht aus wie ein Plastik-Kaktus fürs Westernfort. „Beißen Sie ruhig mal rein“, sagt Birgit Weertz, Mitarbeiterin des Umweltverbandes WWF. Es fühlt sich knackig an und schmeckt salzig. Kein Wunder: die Pflanze wächst auf Salzwiesen, dem Deichvorland, dass im Gegensatz zum Watt nicht täglich überflutet wird.

Die Salzwiesen gehören zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer, dessen 20-jähriges Bestehen am kommenden Wochenende gefeiert wird. Seine Zukunft liegt dem WWF am Herzen. Weertz steht deshalb auf einem buschig bewachsenen Inselchen in einem mäandernden Priel gegenüber von Wangerooge und versucht deutlich zu machen, dass dieses Gebiet auf der Grenze zwischen Land und Meer etwas ganz Besonderes ist: Pflanzen, die hier überleben wollen, müssen mit salzigem Wasser zu Rande kommen. Manche konzentrieren das Salz in Härchen, die dann abfallen, der Queller verdünnt es. Ein Lebensraum für Spezialisten.

Seit der Nationalpark vom damaligen CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht eingerichtet wurde, sind die Salzwiesen zwar geschützt und bleiben weitgehend unberührt. „Das gibt es sonst nur in den Alpen“, sagt Weertz. Doch Schutz bedeutet in weiten Teilen des Nationalparks nicht, dass der Mensch dort gar nicht eingreifen darf: Die Salzwiese gerät zwischen Mensch und Meer in Bedrängnis.

Den Menschen repräsentiert der hemdsärmelige Landrat von Friesland, Sven Ambrosy. Ungerührt stapft er im braunen Anzug und mit spitzen Schuhen bei Regen durchs salzige Kraut. „Für mich ist Ökologie auch immer Wirtschaftsförderung“, sagt er. In der Gemeinde Wangerland zum Beispiel lebten 80 bis 90 Prozent der Einwohner vom Tourismus. Doch das Wangerland ist von zwei Seiten von den immer höher auflaufenden Fluten des Meeres umgeben. „Wir sind auf den Deichbau zwingend angewiesen“, sagt Ambrosy. Am Elisabeth-Außengroden arbeiten die Bagger gerade an der Erhöhung.

Der Klei für die Deiche, sehr dichter, lehmiger Boden, kann in den Salzwiesen oder im Binnenland gewonnen werden. Weil Ambrosy keinen Streit mit den Naturschützern will, hat er gezielt Abbaustätten ausfindig machen lassen. Zwei Drittel der für den Deichbau im Kreis benötigten anderthalb Millionen Kubikmeter sollen aus dem Binnenland kommen, das einmal dem Meer abgerungen worden ist. Ihr Abbau hinterlässt einen 100 Hektar großen See. Der Rest soll punktuell aus den Salzwiesen gebaggert werden.

Beatrice Clauß vom WWF findet das schädlich. Im Landkreis könnte auf 800 Hektar verträglich Klei abgebaut werden. Es sei unnötig, die empfindlichen Salzwiesen zu schädigen. Selbst wenn eine solche Wiese durch angeschwemmtes Sediment binnen 30 Jahren neu entstehe, falle sie so lange als Lebensraum aus. Überdies dehnten sich die Deiche auf Kosten des Vorlandes aus: Für jede Erhöhung muss ein Deich um ein Vielfaches breiter werden. Bei Höhen von acht oder neun Metern werden die Deichfüße so breit, wie Fußballplätze lang sind.

Dass die Deiche nach dem gerade laufenden Ausbauprogramm weiter erhöht werden müssen, darin besteht für Michael Schirmer kein Zweifel. Der Deichhauptmann für das rechte Weserufer in Bremen rechnet mit einem klimabedingten Meeresspiegelanstieg um 80 Zentimeter bis zum Jahr 2100. Die bisherigen Prognosen, so weit sie an der Realität gemessen werden konnten, hätten sich alle als zu vorsichtig erwiesen. „Die norddeutsche Küste kriegt den Klimawandel mit voller Wucht ab“, warnt Schirmer. Steige der Meeresspiegel nur um 40 Zentimeter, drohten die heutigen sieben bis acht Meter hohen Deiche alle 200 bis 500 Jahre überspült zu werden – ein enormes Risiko.

Die Folgen sind unabsehbar. „Man kann die Deiche fünf bis sechs Meter höher bauen“, schätzt Schirmer. Doch mit der Größe wächst die Gefahr, dass ein Deich im Boden versinkt. Wenn ein 15-Meter-Deich bräche, ergösse sich eine turmhohe Flutwelle ins Land.

Paradoxerweise könnten gerade die Salzwiesen dazu beitragen, dies Problem zu entschärfen. „300 Meter Deichvorland entsprechen einem Meter Deichhöhe“, sagt Schirmer. Er empfiehlt, das Vorland durch Buhnen und Lahnungen, Verbaue im Wattboden, gezielt wachsen zu lassen und dabei für drei Generationen im Voraus zu planen.

Die Küstenschützer sind dabei auf die Hilfe des Meeres angewiesen. Die See muss das Material heranspülen, das das Watt allmählich aus dem Meer herauswachsen und zur Salzwiese werden lässt, die die Wellen bremst. Mit dem Klima ändern sich jedoch auch die Meeresströmungen. „Es gibt Modelle, die sagen, die Sedimentation an der Küste reißt ab“, sagt Schirmer. Das Watt und mit ihm die Salzwiesen würden erodieren. Einzigartige Lebensräume gingen verloren.