Das Spiel des Lebens

Die Straßenfußball-WM verwandelt den Kreuzberger Mariannenplatz in ein großes Ferienlager. Kicken ist für die Jugendlichen auch eine Möglichkeit, den Elendsvierteln ihrer Heimat zu entfliehen

VON NINA APIN

Luis Ramirez ist ganz in seinem Element. Der kompakte braungebrannte Mann mit der Baseballkappe lehnt mit dem Oberkörper über die Stadionbande, gestikuliert und brüllt eine Kaskade aus gewehrfeuerschnellen Fußballkommentaren ins Mikrofon: „Y ahora Jonny! Busca una salida allí, ahora sale con la pelota, viene José y – Mario!! Qué chutazo! Goool!“

Die meisten Zuschauer im Straßenfußball-WM-Stadion am Kreuzberger Mariannenplatz verstehen nur das lang gestreckte Wort „Toooor!“ am Ende, aber das macht nichts. Auf der Leinwand wird groß der Spielstand eingeblendet: Costa Rica gegen Peru 1:1. Nach zwölf Minuten ist das Spiel zwischen zwei mal sechs Jungs und Mädchen schon vorbei. Während sich die Spieler auf dem Platz noch umarmen, schnüren sich auf der Tribüne schon die nächsten beiden Teams die Schuhe.

Völlig außer Atem

Luis Ramirez muss erst wieder zu Atem kommen. Es ist heute schon das fünfte Spiel, das der Paraguayer kommentiert, bei seinem Redetempo eine gewaltige Anstrengung. Und vier Spiele stehen ihm noch bevor. Eigentlich reiste Ramirez als Teamcoach der paraguayischen Mannschaft nach Berlin, die Kommentatorentätigkeit übernahm er spontan. Dass er keine Zeit hatte, sich professionell mit der Aufstellung der 22 teilnehmenden Mannschaften zu beschäftigen, stört ihn kein bisschen. „Bei der Straßenfußball-WM zählen andere Dinge als technischer Sachverstand“, sagt Ramirez. „Meine Aufgabe ist es, für gute Stimmung zu sorgen.“

Das gelingt dem Psychologen, der zehn Jahre lang Sportkommentator und Nachrichtensprecher beim Fernsehen war, spielend: Die Stimmung auf den steilen Rängen des Ministadions ist friedlich und ausgelassen. Spieler des gemischt israelisch-palästinensischen „Peace Teams“ teilen sich Bananen mit den „KickAIDS“ aus Pretoria; die rot-weißen Spieler von Sasi Barka aus Poznán versuchen, sich mit Händen und Füßen mit den Senegalesen neben ihnen zu unterhalten. Dazwischen sitzen Großfamilien mit palästinensischen und türkischen Fahnen, kleine Jungs aus der Nachbarschaft und eine Menge Reporter, die versuchen, sich in der Spielpause ein paar Teilnehmern zu nähern.

„Can I ask you a question? Where do you come from?“

„Wie oft habe ich diese Frage heute schon gehört?“ fragt Lovejoy gut gelaunt. Die 20-Jährige ist aus Pretoria angereist und wird heute als einziges Mädchen mit ihrer Mannschaft „KickAIDS“ gegen die Diambars aus Senegal antreten. Wenn sie Glück hat, werden sich die beiden Teams bei der Vorbesprechung darauf einigen, dass Mädchentore doppelt zählen – wegen der Chancengleichheit. Aber um den Sieg geht es Lovejoy und ihrem Team eigentlich nur am Rande. „Alle, die hier sind, haben schon gewonnen“, sagt die Schülerin, die seit ihrem 16. Lebensjahr mit anderen Jugendlichen im Verein gegen Armut und Aids ankickt.

Seit einer Woche ist sie in Berlin, ihre erste Reise ins Ausland erlebt sie wie ein Märchen. „Es ist einfach wunderbar, so viele nette Leute aus der ganzen Welt kennen zu lernen“, schwärmt sie. Verständigen kann sich die Schülerin, die außer Sutu perfekt Englisch spricht, nicht mit allen. Aber der Fußball verbindet, auch ohne Worte: „Wir haben alle den Spirit of Soccer“, sagt sie und knufft den 16-jährigen Palästinenser Mohammed im „Peace Team“-Trikot, den sie gestern beim Abendessen kennen gelernt hat.

Den Spirit of Soccer muss die paraguayische Mannschaft erst wieder neu entdecken. Nach einem siegreichen Spiel gegen die USA am Vormittag und einer Siesta im Mannschaftsquartier liegen die acht ziemlich abgeschlafft auf der Tribüne herum. In der Nähe seiner Jungs wandelt sich Luis Ramirez vom passionierten Sportreporter zum väterlichen Teamcoach. Er reicht eisgekühlten Matetee, tätschelt Schultern und bespricht mit Co-Trainer Alexis Alfonso, wann das Abendessen für alle stattfinden soll.

Überleben dank Fußball

Seit vier Jahren trainiert Ramirez mit Jugendlichen aus den Armenvierteln von Asunción, die jüngsten von ihnen sind sechs Jahre alt. Der Fußball ist bei der Arbeit des Centro para el Desarrollo de la Inteligencia (CDI) nur Mittel zum Zweck. Die Jugendlichen lernen in den wöchentlichen Kursen soziales und faires Verhalten, Körpergefühl und gesunde Ernährung. „Über die Jugendlichen kommen wir an die Familien“, sagt Ramirez. Ziel des Vereins ist Bildung und Erziehung für alle – von frühkindlichen Lernspielen bis zum Schreibkurs für Mütter.

Zusammen mit einem Kollegen betreut Ramirez rund 300 Jugendliche, unterstützt wird er von älteren Projektteilnehmern, die nach und nach selbst mehr Verantwortung in der Gruppe übernehmen. So wie Eliana. Die 21-jährige Psychologiestudentin kickt selbst seit sie 16 ist. Jetzt arbeitet sie im Verein als Projektkoordinatorin und Betreuerin mit. „Die Viertel, aus denen die Jungs kommen, sind wirklich arm“, sagt Eliana. „Gewalt und Drogen sind verbreitet. In manchen Familien wird nur alle zwei Tage gegessen.“

Aldos Familie gehört nicht dazu, sagt er. Der 16-Jährige lebt mit zwei Geschwistern, Mutter, Stiefvater, Großeltern und Cousin zusammen in einem Haus. Auf Santa Ana, sein Viertel, lässt er nichts kommen. „Es ist eine bescheidene Gegend voller guter Menschen“, sagt er. Im Fußballverein ist er schon lange aktiv. Das Kicken ist nicht unschuldig daran, dass er noch zur Schule geht und sein Abitur machen will. Später will Aldo entweder Profifußballer oder Mathelehrer werden. Für die Bildung des Nachwuchses in der Nachbarschaft engagiert sich der schlaksige Junge mit der vorlauten Klappe jetzt schon: Er übt jede Woche Lernspiele mit einer Mutter-Kleinkind-Gruppe.

Essen im Schloss

Sein Kollege Oscar erzählt begeistert von geselligen Abenden im Zimmer, das sich Paraguay mit Brasilien teilt. Das Bethanien sieht aus wie ein Schloss, findet er und schwärmt vom gemeinsamen Essen im Speisesaal: „Es gibt Dinge, die wir nicht kennen, aber wir essen sie trotzdem“, sagt er und will noch schnell aufzählen, was er von Berlin schon gesehen hat: Die Mauer, den Riesenfußball am Brandenburger Tor … Doch Luis Ramirez winkt jetzt energisch mit dem Spielzettel. Gleich ist die Mannschaft gegen Costa Rica dran.

Er setzt wieder seine Reporterkappe auf und hängt sich über die Bande. Man merkt, dass er bei diesem Spiel ein wenig aufgeregter ist als sonst. „Ayayay“, schreit er, als der Pass von Aldo wieder nicht fürs Tor gereicht hat. Am Ende gehen die Jungs mit 0:1 geschlagen vom Platz. „Nicht so schlimm“, sagt Eliana, die neben Luis über der Bande hängt. „Wir sind ja hier nicht bei der Fifa.“

Zum Glück: Auf dem Mariannenplatz haben Argentinien, die Türkei und die USA noch alle Chancen, die Tribünenplätze kosten einen Euro und nach dem letzten Spiel gibt es statt stundenlanger Spielanalysen Musik und Fußball-Kurzfilme.

Die paraguayische Mannschaft geht jetzt aber erst mal essen. Es gibt Nudeln mit Tomatensoße, Salat und eine Art Cevapcici. Alle strahlen, nur der Koch hat schlechte Laune. „Da kommen manche wohl dreimal essen“, mosert er. Gut, dass ihn weder Luis noch Oscar oder Eliana verstehen. „Die Leute sind alle so super und respektvoll zu uns“, sagte Oscar eben noch. Dem geballten Spirit of Soccer auf dem Mariannenplatz kann nicht einmal der Berliner Grant etwas anhaben.