Dann lieber Lebenskrisen

VORABDRUCK Mein Großvater oder: Die Frage nach dem eigenen Glück. Aus der Vorgeschichte unserer persönlichen Krisen

Sich überhaupt mit sich selbst zu beschäftigen wäre ihm niemals in den Sinn gekommen – oder aber er hätte es als vermessen empfunden

VON DIRK KNIPPHALS

Stille umgab ihn.

Dass mein Großvater überhaupt einmal eine Lebenskrise erfahren hätte, konnte ich mir, als er noch lebte, nie vorstellen, und ich kann es bis heute nicht. Ja, manchmal kommt es mir jetzt geradezu so vor, als sei der Mensch, der auf der ganzen Welt am allerwenigsten von Lebenskrisen gewusst hat, ausgerechnet er gewesen, mein Großvater, Karl Knipphals, 1889 geboren (mein Vater war schon recht alt, als ich auf die Welt kam), ein großgewachsener Mann, der Klavierbauer gelernt hat und bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein einen Schnurrbart trug, der zumindest entfernt an den markanten Bart Kaiser Wilhelms II. erinnerte.

Dabei hätte gerade mein Großvater allen Grund gehabt, Lebenskrisen zu kennen. Wenn jemand in krisenhaften Zeiten gelebt hat, dann er.

Zwei Weltkriege fallen in seine Lebenszeit, er hat sie beide als Soldat mitgemacht. Schon im Ersten Weltkrieg hat er alle Zähne verloren. Vier politische Systeme hat er erlebt: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazi-Diktatur, Bundesrepublik. Drei davon endeten bekanntlich im Desaster, eines dieser drei sogar im vollkommenen gesellschaftlichen und ideologischen Zusammenbruch. Ob er sich im vierten, der modernen westlichen Demokratie der Nachkriegszeit, je wirklich zu Hause gefühlt hat, bezweifle ich stark. In die Lebenszeit meines Großvaters fallen auch schlimme Hungerwinter und natürlich die verheerende Inflation des Jahres 1923. Mehrere Wirtschaftskrisen kommen hinzu, vielleicht sogar eine ausgewachsene Revolution: der Matrosenaufstand am Ende des Ersten Weltkriegs. Er lebte in Kiel, wo sich der große kaiserliche Flottenstützpunkt befand. Vielleicht war er zum Zeitpunkt der Aufstände aber auch noch gar nicht von der Front zurück, das weiß ich nicht. Er hat nie darüber geredet. Er hat sowieso nie viel über sich oder die Vergangenheit geredet.

Mit ernsthaften Problemen hatte er zeitlebens zu kämpfen, mit jeder Menge sogar. In den zwanziger Jahren musste er sich immer wieder aufs Neue Arbeit suchen, das soll sehr schwer gewesen sein. Einmal war er über längere Zeit arbeitslos, bis er, als Pendler nach Hamburg fahrend, bei der Firma Steinway & Sons einen Job fand. Im Zweiten Weltkrieg war er eine Zeit lang im fernen Griechenland stationiert, während zwei seiner Söhne an anderen Fronten kämpften, sein dritter Sohn im Arbeitsdienst war und seine Frau allein in einer kleinen Zweizimmerwohnung inmitten eines halb ausgebombten Kieler Hauses lebte, aus dem alle anderen Mietparteien längst ausgezogen waren; keine Ahnung, wie man so etwas emotional aushält.

Trotz all dieser unglücklichen Umstände, all der Sorgen und Probleme, der politischen Katastrophen und gesellschaftlichen Zusammenbrüche konnte ich als Jugendlicher meinen Großvater noch nicht einmal ansatzweise mit der Vorstellung einer Lebenskrise zusammenbringen. Eine persönliche Krise in dem Sinn, wie wir sie heute verstehen – der Lebenssinn implodiert, und alle Lebensumstände sind in Frage gestellt, man grübelt, wie man sein Leben ändern könnte, und das krisenhafte Gefühl wird in Phasen allmählich überwunden –, ist auch in den Familienerinnerungen nicht aufbewahrt.

Er war mir überhaupt immer ein großes Rätsel, mein so erkennbar aus einer ganz anderen Zeit in die liberale Gesellschaft der Bundesrepublik hineingewehter Großvater. Hatte er wirklich nie eine Lebenskrise durchgemacht? Hundertprozentig sicher kann ich mir da natürlich nicht sein. Bei vielen anderen Verwandten konnte ich als Kind und Jugendlicher Risse, Narben und Abwehrhaltungen spüren und erkennen, die die Zeitläufte in ihrer Psyche hinterlassen hatten; bei ihm nicht. Er saß nur da in seinem Sessel, rauchte Zigarre, sah auf den Garten und war vermutlich froh, wenigstens im Alter seine Ruhe vor den Wirrnissen der Welt zu haben.

Doch warum hatte mein Großvater offenbar nie mit einer Lebenskrise zu kämpfen? Diese Frage habe ich mir erst lange nach seinem Tod gestellt. Ich glaube, sie lag schon einige Zeit bereit. Wenn jemand durch so viele äußere Krisen hindurchgegangen war wie er, ohne selbst eine Lebenskrise zu haben, dann musste entweder mit ihm etwas nicht stimmen – oder mit mir, der ich auch ohne dramatische Umstände spätestens mit der Pubertät in eine Lebenskrise geraten war.

Also, warum hatte mein Großvater keine Krisen?

Er war ganz gewiss keine Frohnatur, niemand, der den Schrecken des Lebens mit dem Schutzschild des Humors trotzen konnte. Mein Großvater war aber auch niemand, der heroisch die Zähne zusammenbiss. Vielmehr, so glaube ich heute, lebte er bis zu seinem Tod in einer Welt, in der Lebenskrisen für ihn gar nicht existierten. Sie lagen schlicht außerhalb seiner Vorstellung. Sich überhaupt mit sich selbst zu beschäftigen wäre ihm niemals in den Sinn gekommen – oder aber er hätte es als vermessen empfunden.

Insofern überschreiten die Erfahrungen mit meinem Großvater unseren Familienhorizont bei weitem. Was mir in seiner Gestalt entgegenwehte, das war noch die Härte, die Enge und die emotionale Kälte einer vergangenen Zeit. Das reicht über die Weltkriege, mit deren Gefühlserbschaften aus zurechtgebogenen Familiengeschichten und unbewusst weitergegebenen Traumata wir uns heute viele emotionale Probleme erklären, sogar noch hinaus. Wir sind es gewohnt, uns die Zeit vor und um 1900 aus der Perspektive des gehobenen Bürgertums oder der adeligen Welt der Herrschaften und Sommerfrischen vorzustellen. Hierfür existieren ja auch beeindruckende literarische Zeugnisse: Walter Benjamins „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, natürlich die „Buddenbrooks“, die Romane Theodor Fontanes oder Eduard von Keyserlings. In den dort dargestellten Kreisen von Kaufmannssöhnen, Landadeligen und Bildungsbürgern gibt es durchaus Raum für Selbstbeschäftigung und schützenswerte Innenwelten, obwohl auch diese der sozialen Kontrolle unterliegen. Mein Großvater aber stammte aus Verhältnissen, die in unseren inneren Historienfilmen über das 19. Jahrhundert höchstens als mehr oder minder malerische Kulisse vorzukommen pflegen.

Die Eltern meines Großvaters waren Tagelöhner. Er hatte zwölf Geschwister. Es gibt in unserem Familienschatz ein Foto, auf dem sie alle zu sehen sind, zurechtgemacht wie für August Sander und ordentlich in Reih und Glied aufgestellt wie ein Stoßtrupp. Gelebt hat die Familie in einem kleinen Haus, das wohl eher einer Hütte glich, vor den Toren der Stadt und gleich neben einem Wald, wie der düsteren Welt deutscher Märchen entsprungen. Man muss sich vor Augen führen, wie arm viele Menschen noch vor drei, vier Generationen in diesem Land waren. Wenn man den idyllisierenden Blick, der sich bei Häusern und Möbeln dieser Zeit schnell einstellt, einmal wegschaltet, steht man fassungslos vor der Enge, in der sich die Menschen zusammendrängten. Für individuelle Lebenskrisen war da kein Platz. Und es gab natürlich auch ökonomische Zwänge. Persönliche Krisen konnte man sich in solchen Verhältnissen ganz einfach nicht leisten, da musste jeder funktionieren.

Aber nicht nur die Herkunft und Kindheit meines Großvaters, auch die Lebenswelt, in der er sich als erwachsener Mann bewegt hat, ließ solche Krisen nicht zu. Die Schulen der einfachen Leute waren wie kleine Kasernen; die Fabriken und Werften, wenn er keine bessere Arbeit fand, waren wie große Kasernen. Prägend die zunächst noch kaiserliche, später dann nationalsozialistische Soldatenwelt mit ihren Männlichkeitsbildern. Ein Indianer kennt keinen Schmerz – diesen blöden Spruch bekam ich noch ernsthaft als Jugendlicher zu hören. Und zu den Ritualen meines Großvaters gehörte bis in die siebziger Jahre hinein die morgendliche Wäsche mit kaltem Wasser. Abhärtungsrituale. Wenn man sich mit kaltem Wasser wäscht, bekommt man Haare auf der Brust, hat er mir mehr als einmal erklärt, um mich auch zu solchen Waschungen zu ermuntern.

Er war zweifellos gefangen in seiner Sozialisation. Was eine Lebenskrise mit sich bringt, ist das Herausfallen aus dem geordneten Lauf des Lebens, eine unsichere Position, der Verlust von Halt, ein Auseinanderfallen von Ich und Welt, ein Balanceakt, das Hinterfragen aller Selbstverständlichkeiten. All das war für ihn offenbar nicht vorgesehen. Und er hätte es selbst wohl auch niemals zugelassen.

Letztlich ist mein Großvater wohl dazu erzogen und vielleicht auch geradezu dressiert worden, Lebenskrisen mit Haltungs- und Charakterfragen zu verknüpfen. Krisen galten als weiblich; Frauen konnten Gefühle und Nerven zeigen, als Mann hatte man Haltung zu bewahren. Bis ins ganz hohe Alter war mein Großvater immer korrekt gekleidet, mit Anzughose, Unterhemd, zugeknöpftem Oberhemd und Weste. Bei Spaziergängen trug er, was ich als Kind nie verstanden habe, stets einen Mantel, auch im Hochsommer. Lebenskrisen waren zudem Ausdruck einer unerwünschten politischen Haltung: Sie mussten zwangsläufig dazu führen, dass die gesellschaftliche und religiöse Ordnung hinterfragt wurde. Das stand meinem Großvater nicht zu.

Er hat sich, glaube ich, während er in seinem Sessel saß und auf unseren Garten schaute, lieber gar nicht erst gefragt, ob er glücklich war oder ist. Vielleicht ist ihm die Frage nicht einmal in den Sinn gekommen. Dass er mich, seinen Enkel, damit gut auf die neue Zeit vorbereitet hätte, kann man sicherlich nicht behaupten. Aber immerhin, zwei Grundeinsichten gab er mir doch mit auf den Weg. Zum einen, dass Lebenskrisen nicht schlicht als individuelle Symptome allgemeiner Krisen aufgefasst werden können; denn sonst hätte mein Großvater ja welche haben müssen. Zum anderen, dass ein selbstbestimmtes, intensives Leben – wie auch immer es genau aussehen mag – ohne Krisen womöglich nicht zu haben ist. Und so hat sich im Hinterkopf des Enkels mit der Anmaßung des Nachgeborenen wohl irgendwann eine Erkenntnis festgesetzt: So möchtest du nicht leben! Der Preis, den man zu zahlen hat, wenn man es nur darauf anlegt, Lebenskrisen zu vermeiden, ist einfach zu hoch.

Durchkommen allein reicht nicht.

Dann lieber Lebenskrisen.

■ Vorabdruck aus Dirk Knipphals: „Die Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind“. Das Buch erscheint am 17. 1. bei Rowohlt.Berlin