Getrennte Feiern am Jahrestag der Revolution

TUNESIEN Die schwer bewaffnete Polizei trennt Säkulare und Islamisten voneinander

Nur eins eint beide Lager: die Nationalhymne, die sie immer wieder anstimmen

AUS TUNIS REINER WANDLER

„Sie zementieren die Spaltung Tunesiens“, sagt ein an die Absperrung gelehnter Mann und schüttelt den Kopf. Der Mittelstreifen der Avenue Bourguiba, der Hauptstraße von Tunis, ist mit Polizeigittern eingezäunt. Alle paar hundert Meter steht eine Hundertschaft Polizei mit Schilden, Helmen, Schlagstöcken, Tränengasgewehren und Maschinenpistolen. Die Seitenstraßen sind von Polizisten besetzt. Ein Hubschrauber kreist ständig über dem Stadtzentrum. „Sie trennen die säkularen Parteien von den Islamisten“, erklärt der Mann, was er mit seiner Bemerkung meint. Noch im vergangenen Jahr gab es auf dem Fest am Jahrestag des 14. Januar 2011, als die Tunesier Diktator Zine El Abidine Ben Ali aus dem Amt jagten, zahlreiche kulturelle Veranstaltungen. Künstler stellten aus. Musiker spielten.

Nicht so in diesem Jahr. Auf der einen Seite des Boulevards demonstrieren Gewerkschafter und linke Parteien. Sie verlangen eine säkulare Republik und die Aufklärung der radikalen Islamisten zugeschriebenen Morde an zwei Linkspolitikern, die das Land in eine Krise stürzten.

Die andere Seite gehört den Anhängern der islamistischen Partei Ennahda, die erst vor wenigen Tagen auf Druck der Opposition die Regierung dem Unabhängigen Mehdi Jomaa überließ, damit dieser ein Technokratenkabinett ernennt. Außerdem hat die Liga zum Schutz der Revolution – eine radikale Islamistentruppe mit Milizcharakter – eine Lautsprecheranlage aufgebaut. Zwischen religiösen Gesängen ist von Erneuerung und frommen Werten sowie vom Kampf gegen alte Seilschaften die Rede. Nur eines haben beide gemein: die Nationalhymne, die sie immer wieder anstimmen.

Ein dritter Zug kommt aus der Gegenrichtung. Es sind die Angehörigen der „Märtyrer der Revolution“. „Mein Bruder Hassan wurde von der Polizei zwei Tage vor dem Sturz Ben Alis erschossen, und bis heute kam es zu keinem Gerichtsverfahren“, erklärt Fathia Arfaoui, warum sie aus der Bergarbeiterregion Gafsa im Süden angereist ist. 112 Familien der insgesamt 317 Todesopfer sind nach Tunis gekommen. „Nur fünf Verfahren wurden bisher abgeschlossen und die Schuldigen verurteilt“, beschwert sich der Opferanwalt Charfedinne El Kellil. Selbst die Entschädigung von umgerechnet 10.000 Euro wurden bisher an die betroffenen Familien nicht ausgezahlt.

„Das Gericht hält sie zurück bis zum Ende der Verfahren“, erklärt er. Das Militärgericht führt die Ermittlungen, da die mutmaßlichen Täter Polizisten sind. Die haben es nicht eilig. „Wenn wir hier kein Recht bekommen, werden wir vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ziehen“, sagt der Anwalt.