Enge macht dumm

Viele Kinder haben kein eigenes Zimmer. Das behindert ihre Entwicklung, sagen Psychologen. Schulversagen ist vorprogrammiert. Besonders schlimm: ein Fernseher in dem geteilten Zimmer

Das Zimmer muss der Entwicklungsphase des Kindes entsprechen

von BARBARA GOERGEN

Die pubertierende Zehnjährige will Techno hören, ihre kleine Schwester in Ruhe ihr Lieblingsbuch lesen. Dann müssen beide auch noch ihre Schularbeiten erledigen – und schon gibt es Streit im gemeinsamen Kinderzimmer. Eine alltägliche Szene in der Familie „Durchschnitt“, in der sich beide Kinder nichts sehnlicher wünschen als die eigenen vier Wände. Das Problem ist zumeist, dass die Kinder, die sich ein Zimmer teilen müssen, gerade unterschiedliche Entwicklungsphasen durchmachen.

„Spätestens mit zehn Jahren ist es sinnvoll, jedem Kind einen eigenen Raum zur Verfügung zu stellen“, rät die Darmstädter Wohnpsychologin Antje Flade. Ab Schulbeginn brauche jedes Kind einen Rückzugsort, um in Ruhe Hausarbeiten machen zu können. (siehe Interview)

Die Realität in den deutschen Haushalten sieht jedoch ganz anders aus. Laut einer Statistik der LBS Bausparkasse über Wohnraumversorgung verfügen zwar bereits 90 Prozent aller Familienhaushalte über ein oder mehrere Kinderzimmer: Trotzdem teilen sich allzu viele Schulpflichtige den Raum mit ihren Geschwistern oder müssen sogar völlig auf einen eigenen Bereich verzichten. Dabei nennen Mädchen seltener als Jungen ein Zimmer ihr Eigen, obwohl sie ihre Freizeit erwiesenermaßen mehr zu Hause verbringen.

Es schadet der Entwicklung des Kindes, wenn der Platz in der elterlichen Wohnung zu knapp ist. Denn hier entwickeln sie zuerst ein Gespür für die eigene Identität. Hier trainieren sie ihre Motorik, lernen sich selbst zu motivieren und sozial zu verhalten. Die Folgen des Platzmangels sind, dass die Kinder übertrieben ängstlich sind und Schwierigkeiten haben sich zu konzentrieren.

Verstärkt wird dies durch die äußere Wohnsituation von Kindern. Und die ist in Deutschland zumeist miserabel. Ein Drittel der Familien lebt nicht in einem kindgerechten Umfeld, wie eine Langzeitstudie des Deutschen Jugendinstituts in München belegt. Verkehrsreiche Straßen, wenig Spielmöglichkeiten – so sieht vor allem die Umgebung der Kinder aus einkommensschwachen Familien aus. Sie unternehmen weniger Ausflüge mit ihren Eltern, haben weniger Freunde – zum Beispiel weil sie keinen Besuch in ihrem Zimmer empfangen können. Und so bekommen sie öfter Probleme in der Schule.

Wenn Kinder längere Zeit über keinen persönlichen Raum verfügen, leiden sie darunter und reagieren häufiger verhaltensgestört als ihre Altersgenossen. Die amerikanische Forscherin Susan Saegert wies darüber hinaus nach, dass es bei beengt lebenden Familien auch vermehrt zu Konflikten kommt.

Kleine Wohnungen sind laute Wohnungen. Und das hat verheerenden Konsequenzen für die Intelligenz der Kinder. Denn chronischer Lärm beeinträchtigt den Spracherwerb und verzögert damit die kognitive Entwicklung, stellte Saegerts Landsmännin Arline Bronzaft fest. Kinder, die in einer verlärmten Umwelt aufwachsen, lernen langsamer, können sich schlechter artikulieren, haben Schwierigkeiten beim Lesen. Die Forscherin bilanziert: „Mehr Platz, bessere Leistungen!“ Flade, die sich mit dem Einfluss der Wohnverhältnisse auf die kindliche Entwicklung beschäftigt hat, kommt sogar zu dem Schluss: „Lärm und beengtes Wohnen sind die schlimmsten Feinde des Kindes!“

Ohne eigenen Raum ist der Nachwuchs bei familiären Spannungen dem Stress besonders schutzlos ausgeliefert. „Kinder können nicht mal eben aus dem Felde gehen“, hat die Psychologin beobachtet. Diese Unfähigkeit, sich abzugrenzen, bleibt meist im Erwachsenenalter bestehen. Und so könnten die Kinder den Leistungsanforderungen, „die heutzutage enorm wachsen“, in der Schule und im späteren Beruf nicht mehr gerecht werden.

Wenn Kinder keinen eigenen Raum haben, sind sie häufiger verhaltensgestört

Besonders schlimm wird es für Kinder und Teenager, wenn in dem geteilten Zimmer auch noch ein Fernseher steht. Eine aktuelle Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens fand heraus, dass die Jugendlichen, die bei den Pisa-Tests schlecht abschnitten, im Kinderzimmer häufig einen Fernseher hatten. Je mehr Zeit die befragten Zehnjährigen vor dem TV-Gerät verbringen, desto schlechter sind die Schulleistungen.

Angesichts dessen ist es gut, dass Kindertherapeuten mittlerweile dazu übergehen, Schüler mit Lerndefiziten nicht mehr per se als „gestört“ einzustufen. Stattdessen berücksichtigen sie auch die Situation, in der die Kinder leben. Dabei stellt sich heraus, dass Schulprobleme nicht zwingend der Beweis geringerer Intelligenz sind. Neben dem Fernsehkonsum ist das Versagen der Kleinen vor allem eine Folge von familiärem Wohnraummangel, schlechter Wohnausstattung und dem daraus resultierenden Stress für Körper, Geist und Seele.

Wie sollte das ideale Kinderzimmer also aussehen? Experten gehen davon aus, dass das Zimmer an das Alter, die Entwicklungsphase der Kinder angepasst werden muss. (siehe Kasten) Für die Größe nennt der Verein „Wohnen mit Kindern“ zumindest eine Faustregel: Jedes Kind braucht seinen eigenen Raum, der mindestens 10, besser 14 bis 18 Quadratmeter groß sein sollte.

Doch das ist eine Zukunftsvision. In Neubauten sind kleine Wohnungen mit winzigen Kinderzimmern, in den schlimmstenfalls ein Fernseher flimmert, immer noch gang und gäbe. Baurechtliche Vorschriften freier Wohnungen über deren Größe oder so etwas wie ein Kinderrecht darauf gibt es nicht.