„Milli Görüs hat direkten Einfluss“

MUSLIME Hinter dem verbotenen Verein, der an die Hamas spendete, stecken Milli- Görüs-Funktionäre. Islamismusexpertin Dantschke fordert dennoch den staatlichen Dialog

■ 46, ist Islamismusexpertin. Seit 2002 arbeitet sie am Zentrum Demokratische Kultur in Berlin, für das sie zahlreiche Studien verfasst hat.

INTERVIEW SABINE AM ORDE

taz: Frau Dantschke, der Innenminister hat die Internationale Humanitäre Hilfsorganisation (IHH) verboten, weil sie die Hamas untersützt haben soll. Dahinter stecken Funktionäre der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG). Hat Sie diese Verknüpfung überrascht?

Claudia Dantschke: Nein, das ist seit Jahren bekannt. Vor allen während des Gazakriegs im Januar 2009 war die Zusammenarbeit offensichtlich, die Verbindung zur IHH wird von der IGMG auch nicht bestritten. Außerdem war bekannt, dass Mustafa Yoldas, eines der bekanntesten Milli-Görüs-Gesichter in Norddeutschland, seit März 2009 Vorsitzender der IHH ist.

Milli Görüs gilt bislang als gewaltfrei und legalistisch. Nun unterstützen Milli-Görüs-Funktionäre laut Innenminister eine Terrororganisation. Muss man die Einschätzung von Milli Görüs überdenken?

Legalistisch heißt ja noch nichts über die Ideologie der IGMG: Für sie steht die Hamas nicht für Terror, sondern für Widerstand. Sie unterstützt den sozialen Arm der Hamas, allerdings nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch aus ideologischen. Man fühlt sich als Teil einer großen weltweiten Opfergemeinschaft, an deren Spitze die Palästinenser in Gaza stehen.

Braucht es also eine Neueinschätzung?

Das ist schwierig. Milli Görüs ist eine weltweite Bewegung und die IGMG in Deutschland ist ein Teil davon. In der Gesamtbewegung gibt es durchaus Kräfte, die einer aktiveren Art der Umsetzung der eigenen islamistischen Ideologie das Wort reden. Die Leute hierzulande und in Europa schätze ich so nicht ein. Ihnen geht es eher darum, mit legalen Mitteln ihre Ideologie langfristig in die Realität umzusetzen.

Welche politischen Konsequenzen wird das Verbot haben?

Die deutsche Milli-Görüs-Führung ist sehr groß. Es gibt Teile, die sehr in die Türkei gewandt sind und noch stark mit dem radikalen Kurs des Milli-Görüs-Gründers Erbakan verbunden sind. Es gibt aber auch Funktionäre, die sich stärker auf Deutschland und Europa beziehen und eine Loslösung vom türkischen Einfluss propagieren. Interessanterweise stellt nun genau dieser Teil der Milli-Görüs-Funktionäre die Führung der IHH und ist dadurch diskreditiert. Ihr Ziel war es, die IHH zu einer von der Türkei unabhängigen Organisation aufbauen und damit auch den eigenen Einfluss zu vergrößern. Eine Abkehr von den ideologischen Grundmustern ist damit aber nicht verbunden, wie sich zeigt.

■  Verbot: Am Montag hat der Bundesinnenminister die Internationale Humanitäte Hilfsorganisation (IHH) verboten, weil diese 6,6 Millionen Euro an die radikalislamische Hamas transferiert haben soll. Hinter der IHH stecken zahlreiche Funktionäre der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG).

■  Milli Görüs: Der Verband ist mit gut 300 Moscheen und 29.000 Mitgliedern die größte islamistische Organisation in Deutschland. Sie wird vom Verfassungsschutz beobachtet, gilt aber als gewaltfrei und legalistisch.

Der Innenminister hat Milli Görüs – oder korrekter gesagt: den Islamrat – vor einigen Monaten von der Islamkonferenz ausgeschlossen. Rückt jetzt der staatliche Dialog mit Milli Görüs in noch weitere Ferne?

Das befürchte ich. Schon derzeit gibt es große Unterschiede, in Hamburg ist die Politik ganz anders als im Bund. Dort wird Milli Görüs eher eingebunden, es gibt eine Auseinandersetzung. Ob sich das ändert, bleibt abzuwarten. Schließlich ist Mustafa Yoldas, der IHH-Vorsitzende, dort ein wichtiger Ansprechpartner für die staatliche Seite.

Warum halten Sie die Auseinandersetzung mit Milli Görüs für so wichtig?

Milli Görüs hat direkten Einfluss auf schätzungsweise 60.000 Menschen und auf ein noch größeres Umfeld. Viele sind einfache Muslime, tausende Kinder und Jugendliche wachsen in die Organisation hinein. Will man die Integration der Muslime, kann man sie nicht außen vor lassen.