Schatten auf dem Eis

STURZ Vor vier Jahren wurde Sarah Hecken als Eislaufwunderkind gefeiert und stieg zur lokalen Werbeikone auf. Dann kam die große sportliche Krise. Bei der EM blamiert sie sich

Auf das Lächeln der jungen Frau mit den rehbraunen Augen können sich die Werber verlassen

VON MARINA MAI

„Ich kann es mir auch noch nicht ganz erklären … sorry … Aber … das ist Sport!“ Es liest sich ziemlich verzweifelt, was Sarah Hecken am Tag nach ihrer Kurzkür bei den Eiskunstlaufeuropameisterschaften an ihre Fans auf Facebook geschrieben hat. Sie hatte eine katastrophale Vorstellung abgeliefert. Zweimal ist sie gestürzt – beim dreifachen Toeloop und beim dreifachen Salchow. Am Ende lag sie auf dem 34. Platz und verpasste so die Qualifikation für die finale Kür. Bei der läuft heute Abend Nathalie Weinzierl, die nach dem Kurzprogramm 10. ist, als einzige Vertreterin der Deutschen Eislauf-Union DEU. Hecken, das einstige Wunderkind des deutschen Eiskunstlaufs, muss zusehen.

Schon bei den Deutschen Meisterschaften kurz vor dem Jahreswechsel in Berlin fehlte ihr die Frische und die Power, mit der sie als Teenager über das Eis lief, die Freude, die sie nach jedem gestandenen Sprung ausstrahlte. Sarah Heckens Leistung stagniert seit Jahren, und eine Top-Ten-Platzierung hat sie bei einer EM noch nie geschafft.

Bereits mit zwölf galt Sarah Hecken als riesige Nachwuchshoffnung einer Sportart, die einmal bessere Zeiten kannte. Mit 14 brillierte sie bei ihrem ersten Junioren-Grand-Prix. Mit 16 war sie die jüngste deutsche Teilnehmerin an den Olympischen Spielen in Vancouver. Dort wurde sie 18. Ihr Ausdruck war nicht wegen einer ausgefeilten Choreografie so überzeugend, sondern wegen ihrer Natürlichkeit und der unübersehbaren Freude an ihrem Sport. Dass ihr Sprungrepertoire noch nicht auf internationalem Niveau war, machte sie so wett.

Nach Vancouver begann für die Hecken eine zweite Karriere. In ihrer Heimatstadt Mannheim wurde sie zur Werbeikone. Sie gab Autogrammstunden in Bankfilialen und Kinos, bewarb Weihnachtsmärkte. Ein Mannheimer Autohaus schenkte ihr ein Kraftfahrzeug. Die Sportlerin genoss ihre Popularität. Sie wurde das Gesicht der erfolgreichen Bewerbung ihrer Heimatstadt für die Bundesgartenschau 2023. Auf das Lächeln der jungen Frau mit den braunen Haaren und den rehbraunen Augen können sich die Werber verlassen.

Auf ihre Leistung auf dem Eis nicht mehr. Ihre langjährige Mannheimer Trainingskollegin Nathalie Weinzierl, die neue deutsche Meisterin, ist ihr über den Kopf gewachsen. Die ein Jahr jüngere Weinzierl lief noch beim Nachwuchs und kämpfte immer wieder mit Knieverletzungen, als Hecken schon internationale Lorbeeren sammelte und sich in der Aufmerksamkeit der Stadt Mannheim sonnte. Im vergangenen Jahr lagen beide Sportlerinnen etwa gleichauf. Inzwischen ist Weinzierl ihrem einstigen Vorbild auf dem Eis uneinholbar entrückt. In internationalen und nationalen Wettbewerben hat sie dank ihres besseren Sprungvermögens und der erworbenen Wettkampfstabilität deutlich mehr Punkte sammeln können. Sarah Hecken konnte es nicht mehr ertragen, mit Weinzierl in einer Trainingsgruppe zu üben, sich mit ihr die Aufmerksamkeit von Trainer Peter Sczypa teilen zu müssen, und trainiert darum seit September in Berlin bei Jungtrainer Stefan Lindemann.

Dabei war das Verhältnis zwischen Sarah Hecken und Peter Sczypa mehr als ein normales Trainer-Sportlerin-Verhältnis. Der freundliche Mittfünfziger hatte die Tochter einer alleinerziehenden Mutter quasi in seine Familie adoptiert. „Ich habe 16 Jahre lang bei ihm trainiert und ihn mehr gesehen als meinen Vater“, sagt Hecken der taz. Sczypas Frau hat Hecken auf Wettkampfreisen sozial betreut. Seine Tochter pflegte Heckens Website. Seit sie in Berlin trainiert, gibt es dort keine neuen Einträge mehr.

Hat die 20-Jährige, die nun von einer Olympiateilnahme in vier Jahren träumt, überhaupt eine Zukunft im Eiskunstlauf? Zu den Europameisterschaften durfte sie nur fahren, weil Nathalie Weinzierl im vergangenen Jahr als Neunte einen zweiten Startplatz für die DEU erkämpft hatte. Die Olympischen Spiele und die Weltmeisterschaften werden ohne Hecken stattfinden. Die Olympianorm hat sie verfehlt. Und sollte es nächstes Jahr wieder zwei deutsche EM-Startplätze geben, muss sich Hecken der Konkurrenz jüngerer Läuferinnen aus Sachsen und Bayern stellen, die dieses Jahr noch bei den Juniorinnen laufen.

War der Weg nach Berlin für die Sportlerin, die seit 2007 vier deutsche Meistertitel gewann, überhaupt sinnvoll? In der Hauptstadt hat sie keine Chance als Werbeikone wie in Mannheim. Hier ist sie außerhalb der Eishallen ein Niemand. Sarah Hecken hat darauf eine einfache Antwort. „Seit ich in Berlin bin, liebe ich meinen Sport wieder. Auf dem Eis fühle ich mich frei.“ Es scheint, als habe sie sich für den Sport entschieden und gegen das Sonnen im Mannheimer Rampenlicht. Auch wenn ihre Zukunft dort vage ist. Aber das sieht Hecken ohnehin anders. „Ich will mich sportlich weiterentwickeln, arbeite am dreifachen Rittberger. Und die starken deutschen Juniorinnen müssen erst einmal durch die Pubertät kommen.“