Der Kanzlerin geht ihr Reformer-Image verloren

Vom „Teamgeist“ ist in Koalition und Union nichts mehr zu spüren – und so wird ein Reförmchen für Merkel zur Herkulesaufgabe

BERLIN taz ■ Sie tut alles, um die Gedanken so lang wie möglich von der Politik auf die WM zu lenken. Am Mittwoch lud Angela Merkel einige deutsche Spieler zum Dinner ein. „Bei der Kanzlerin war es sehr, sehr locker“, schwärmte Jens Lehmann, „das Essen war auch gut.“ Gestern ließ sich Merkel einen Endspielball überreichen und schwärmte über die WM: „Es war eine tolle Stimmung auf den Straßen und Plätzen.“ Es war. Dass Merkel schon vor dem Finale in der Vergangenheitsform sprach, zeugte immerhin von Annäherung an die Realität.

Fußball, Fußball, tralala, und die Kanzlerin mittendrin – die Begeisterungsfähigkeit Merkels kam gut an. Inzwischen jedoch wirkt ihr permanentes Fantum zunehmend wie eine Flucht. Seit der Niederlage gegen Italien wird wieder über Politik geschrieben und geredet, vor allem über den Gesundheitskompromiss – und die meisten Äußerungen dazu fallen alles andere als schmeichelhaft für die Kanzlerin aus.

Die Vorwürfe der SPD sind dabei noch ein eher geringes Problem. Sie passen nicht zum Ballnamen „Teamgeist“. Aber dass die Sozis schimpfen, ließe sich als Ausdruck von deren Unzufriedenheit und als Beleg für Verhandlungserfolge Merkels deuten, was ihre Getreuen wie Generalsekretär Ronald Pofalla und Fraktionschef Volker Kauder auch brav versuchen. Angriffe von außen sind bis zu einem gewissen Grad sogar willkommen, weil sie die eigenen Reihen schließen: Nichts hat Merkel nach der Bundestagswahl im Herbst mehr geholfen als die Frontalattacken Gerhard Schröders. Auch jetzt sieht es so aus, als zwinge die SPD-Kritik CDU-Kritiker dazu, höchstens still zu murren.

Was Merkel ernsthaft Sorgen machen muss, ist ein schwerwiegender Verlust, der sich in den Kommentaren fast aller Medien bemerkbar macht – und den ihre parteiinternen Rivalen aufmerksam registrieren werden. Merkel kommt ihr mühsam aufgebautes Image als mutige Reformerin abhanden. Mit Maggie Thatcher vergleicht sie niemand mehr, stattdessen erinnern sich viele an Helmut Kohl, der Probleme vorzugsweise aussaß und Konflikten aus dem Weg ging. „Zaghaft“ – das ist noch das Freundlichste, was Unionspolitikern einfällt, wenn sie die Beschlüsse beschreiben, die Merkel ausgehandelt hat.

Ausgerechnet bei der Reform des Gesundheitssystems, das die Oppositionsführerin Merkel komplett umkrempeln wollte, entschied sich Kanzlerin Merkel dazu, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Steuererhöhungen waren mit den Unions-Ministerpräsidenten nicht zu machen. Sie fürchten Unmut vor ihren Landtagswahlen – so verzichtete die Kanzlerin auf eine Umfinanzierung, die sie für richtig hält. Leistungskürzungen bei den Krankenkassen wiederum lehnte die SPD ab, also verzichtete Merkel auch darauf. Eine Reform, die beiden Parteien geschmerzt hätte, wollte oder konnte sie nicht durchsetzen. Eine, die Pharmaindustrie und Ärzten wehtäte, erst recht nicht.

Höhere Kassenbeiträge als auffälligstes Reformergebnis: politisch eine Katastrophe. Um den Schaden zu begrenzen, fordern Unionisten jetzt, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung stärker zu senken. Es geht um 0,5 Prozentpunkte. „Zwingend nötig“, sagte Gerald Weiß, Vorsitzender im Arbeitsausschuss, der taz. Mit mir nicht, erklärte der zuständige SPD-Minister Franz Müntefering bereits. 0,5 Prozentpunkte zusammenzukratzen – für die Oberreformerin Merkel scheint das inzwischen eine Herkulesaufgabe zu sein. LUKAS WALLRAFF