Wenn die Gebärden tanzen lernen

Das Bremer „tanz_bar“-Projekt bringt als erste „mixed-abled Company“ im Norden Behinderte und Nicht-Behinderte zusammen und sucht dabei eine neue Tanzästhetik. Der Anspruch ist hoch: Es geht nicht um Zeitvertreib, sondern um Professionalität. Und das auch über Kommunikationshürden hinweg

Von Henning Bleyl

Erstmal kräftig ausschütteln. Dann: innehalten. Auf den Herzschlag hören. Sich so durch den Raum bewegen, dass möglichst oft die im Geist zwischen zwei anderen TänzerInnen gezogene Linie überschritten wird. Oder überrollt: Das Training im Bremer „Tanzwerk“ nennt sich „integrativ“, ist also offen für Menschen mit allen möglichen technischen Hilfsmitteln, mit sehr unterschiedlichen körperlichen und geistigen Voraussetzungen. Das Wort „behindert“ wird dabei nur selten benutzt. Schließlich geht es um die Betonung und das Herausarbeiten der tänzerischen Potenziale, wie Trainerin Corinna Mindt erklärt. Dann geht es schon weiter: Am Boden rollen, Duett-Übungen, theatrale Miniaturen.

Doris zum Beispiel ist eine unentwegte Performerin. Schnell und präzise formen ihre Hände Satz für Satz, nahtlos geht die Bewegung in den übrigen Körper über: Aus den Gesten und Gebärden wird ein ebenso exakter wie flüssiger Tanz. Gehörlos zu sein ist offenbar keine schlechte Voraussetzung für gutes Tanztheater. Wer sonst ist so sehr auf seine Körpersprache angewiesen – und entsprechend trainiert? Frank wiederum hat ein extrem trainiertes Bein. Das muss es auch sein: Es ist sein einziges voll entwickeltes Gliedmaß.

Auf den neuen Schwingboden des „Tanzwerks“, bei dem es anfangs immer Ärger bei lackierten Fußnägeln gab, dürfen selbstverständlich auch Rollstühle. Frank tanzt trotzdem lieber ohne und selbst Ria, seit langem an Multipler Sklerose erkrankt, erprobt mittlerweile ihre Möglichkeiten auf dem blanken Holz. Sie alle gehören zur kürzlich gegründeten Compagnie „tanzbar_bremen“, die von der „Aktion Mensch“ als innovatives Pilotprojekt unterstützt wird. Keine Frage: Thomas Quasthoff singt wie ein Gott, Chaosforscher Steven Hawking ist eine Koryphäe – körperlich behinderte TänzerInnen aber sind, abgesehen von Gerda Königs Kölner „DinA 13“-Produktionen, selten zu erleben. Zu oft ist das Genre in einer konventionellen Ästhetik verhaftet.

Die „tanzbar“-Ästhetik entwickelt sich gerade. Ein erstes Showing zeigt Szenen, die sowohl von Contact Improvisation gespeist sind als auch narrative choreographische Ansätze spiegeln. Man lernt dabei: Auch Augen können tanzen. Die von Kalle zum Beispiel. Er lässt sich am liebsten tragen, ist aber ein Blicker, wie es wenige gibt. „Das zentrale Erlebnis ist für mich die ästhetische Sprengkraft, die in der Begegnung dieser unterschiedlichen Körper liegt“, sagt eine sichtlich bewegte Zuschauerin hinterher.

Zurück in‘s Training. Wo liegen die Schwierigkeiten? „Es ist nicht einfach, Unterrichtsmethoden für so viele verschiedene Menschen und Körper zu finden“, sagt Corinna Mindt, „wir müssen beständig herausfinden, was für wen wie geht.“ Ein anderes Problem ist die Kommunikation. Doris kann nicht hören, Frank hat nur ein Bein – meistens verstehen sie sich auch ohne Sprache und Gebärden, „zur Not schreiben wir es auf“, erklärt Doris. Manchmal fühlt sie sich trotzdem außen vor. „Da müssen wir noch Kommunikationsregeln finde“, sagt Corinna Mindt. Das Gruppengefühl hat sich offenbar auch so schon etabliert.

„tanzbar_bremen“ ist beileibe kein Einsteiger-Projekt. Es richtet sich ausdrücklich an Leute mit Bühnenerfahrung, ab und an nutzen auch Mitglieder der Tanzcompagnie des Bremer Theaters die nicht alltägliche Trainingsmöglichkeit. Der Pool an Aktiven ist in Bremen beachtlich: Seit 20 Jahren arbeitet hier zum Beispiel das „Kunst&Psychiatrie“-Atelier „Blaumeier“, dessen Theaterproduktionen immer wieder auf Festivals und in großen Häusern zu sehen sind. Andere „tanzbar“-Teilnehmer haben in der „Pschyrembel“-Gruppe Erfahrungen gesammelt, die von dem an Parkinson erkrankten Schauspieler Rudolf Höhn gegründet wurde. Und das „steptext dance project“, von dem die Initiative zur „tanzbar“ ausging, hat schon etliche Produktionen mit „mixed abled“ TeilnehmerInnen auf den Weg gebracht. Perspektivisch soll das derzeit zweimal wöchentlich stattfindende Training zu einer gestaffelten Ausbildung ausgebaut werden – ein ambitionierter Plan, zumal die „Aktion Mensch“ nur befristet fördert. „Für Künstler mit Behinderungen gibt es kaum Ausbildungsmöglichkeiten“, heißt es im schon vorliegenden Konzept. Jetzt gehe es darum „den Behindertenbonus hinter sich zu lassen“, um Erfolge „jenseits der deklarierten integrativen Kunst“ zu haben.

Kräftig ausschütteln. Innehalten. Auf den Herzschlag hören. Alles weitere wird sich finden.