berliner szenen Das Alphabet der Stadt

R wie Rudow

„Willkommen in der Nazihochburg“ steht nirgends. Überhaupt scheint Rudow den schlechten Ruf nicht verdient zu haben. Wenn man aus der U 7 kommend das Tageslicht erreicht, sieht es eher wie eine amerikanische oder irgendwie südländisch-kaputte Budenwelt aus, mit vielen Imbissen, Flachbauten, Pavillons. Und einfach nur Verkehr.

Es ist ein heißer Julitag. Schlechte Zeiten für Sonnenstudios. Ein ziemlicher „Eisensommer“, obwohl es dem Schild nach „Eisen Sommer“ heißt, vermutlich verbirgt sich ein Schrotthändler dahinter. Zum Glück kann man in „Betty's Eiscafé“, natürlich mit Deppen-Apostroph, aus 16 Eissorten wählen. Betty ist heute ein junger Mann mit Strähnen in der Frisur.

Mit einer Waffel in der Hand geht es Alt-Rudow entlang. Ein Drospa, ein Riesen-Reichelt, ein Blutspendebus. Die mit Fähnchen herumfahrenden Autos sehen aus wie bei einem überproportionierten Autoscooter, nur rammen will keiner. Wird Versicherungsgründe haben. Auch sehen die Fähnchen alle gleich aus. Sehr mononational, jedenfalls.

Links zur Neuköllner Straße ein nahezu ausgetrocknetes Bächlein, das Rudower Fließ. Auf der anderen Seite sind die Straßen plötzlich Chausseen mit pittoresken Einfamilienhäusern und gepflegten Vorgärten, eine Idylle am Rande der Großstadt. Haben sich weiland wohl auch die Stadtplaner gedacht und am Rande der Idylle ein Rentnergetto gebaut. Seniorenmietskasernen in langen Zeilen. An der Bushalte kurz vorm ehemaligen Mauerstreifen sitzt eine ältere Dame, ihr Goldpudel hat kreisrunden Haarausfall und freut sich über jede Zuwendung. Ein Bus schwitzender Menschen nimmt uns auf. Es geht weiter stadtauswärts, in den Süden.

RENÉ HAMANN