Vollgestopft mit Süßigkeiten

Stumme Beklemmungen: In Anja Frischs erstem Erzählband „Schneehasen“ liegen die Katastrophen im Unauffälligen

Mit einem einzigen Satz hat es der kauzige Büroangestellte Bartleby zu einiger Berühmtheit gebracht: I would prefer not to – Ich würde lieber nicht. Herman Melville hat den Zauderer in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden. Seither steht das Bartleby-Syndrom für all jene Spielarten von Hemmung und Verweigerung, mit denen sich das literarische Personal – und nicht zuletzt der Schreibende selbst – herumschlagen muss.

Mit ihrem Debüt „Schneehase“ schreibt die 1976 geborene Anja Frisch die lange Liste der literarischen Bartlebys fort. Die Protagonisten ihrer dreizehn Erzählungen tun im Wesentlichen nur eins: nämlich nichts. Allerdings kommen sie dabei ohne das emphatische Bekenntnis zur Verweigerung aus. Es ist eine kraftlose Schweigsamkeit, von der sie befallen sind. Sie stopfen sich lieber mit Süßigkeiten voll.

„Glückskäfer“ heißt die Geschichte, in der eine der vielen namenlosen Erzählerinnen ihr Unbehagen über die familiären Auseinandersetzungen mit Vanillepudding erledigen will. Überhaupt geht es bei Frisch vor allem um stumme Familienkatastrophen. Eine Frau erträgt über Jahre die amourösen Eskapaden ihres Mannes. Sie schweigt, als er eine seiner zahllosen Geliebten mit in den Sommerurlaub der Familie lotst. Auch die Tochter hält lieber den Mund. Dafür entwickelt sie die Fähigkeit, treffsicher vorauszusagen, welche Frau als nächste dem Charme des Vaters erlegen sein wird. „Ich nannte sie alle Bibiane“: Der Titel der Geschichte ist ihr lakonischer Kommentar.

In den „Notizen einer Verreisten“ flüchtet die Ich-Erzählerin aus einer Beziehungskrise in einen kleinen Badeort. Dort lässt sie die Tage verstreichen und vermeidet jeden Gedanken an das, was sie zurückgelassen hat. Immer wieder wiederholt sie die hilflose Formel „Ich bin verreist“. Der gute alte Bartleby hätte seine stille Freude gehabt.

Anja Frisch, die am Leipziger Literaturinstitut studiert hat, schreibt knapp und klar. Kühl, fast frostig blicken ihre Helden auf die Welt, um sich vor allem zur eigenen emotionalen Schräglage nicht bekennen zu müssen. Folglich gelingt es Frisch immer dann Spannung zu erzeugen, wenn der Ausbruch der Figuren unmittelbar bevorsteht. Dass sie aber immer wieder in ihre fatalistische Teilnahmslosigkeit zurückfallen, steigert dann doch nur die allgemeine Beklemmung. Die Autorin folgt diesem Konzept so bedingungslos, dass darüber die Individualität der Figuren auf der Strecke bleibt: die illegale Immigrantin, die ihre Familie verlassen hat, um im Westen Geld zu verdienen; der Abiturient, der seiner Schwester verfallen ist; die unbegabte Klavierschülerin. Zu unterscheiden sind sie nur durch das Gerüst der Handlung, das Frisch ihnen mitgegeben hat.

Die zahlreichen, wenn auch diskreten Motivwiederholungen in den Erzählungen verstärken da eher die Monotonie, als dass sie den Eindruck eines fein gesponnenen Gewebes entstehen lassen. Der zurückgenommene Ton von Frisch mag zuweilen an Judith Hermann denken lassen. Als Hermann mit dem Erzählungsband „Sommerhaus, später“ debütierte, wurde sie vor allem deshalb gefeiert, weil sie mit ihrem melancholischen Sound das Lebensgefühl ihrer Generation auf den Punkt gebracht hat. Die trendige Prenzlauer-Berg-Szenerie ihrer Geschichten dürfte allerdings einen erheblichen Anteil an Hermanns Erfolg gehabt haben.

Dieses Ambiente fehlt Anja Frisch. Sie schreibt nicht über Szenegänger. Folglich wird sie es schwerer haben, von Szenegängern gelesen zu werden. Frischs Figuren sind unauffällig, beinahe unkenntlich, und flüchtig: Schneehasen eben – man sieht sie nur ganz selten. Denn es verlangt schon einen geschärften Blick, damit sich ihre Konturen vor dem Hintergrund des Alltags abzeichnen. Ein echter Bartleby könnte sie natürlich ohne Probleme erkennen. Wenn er nicht auch aufs Lesen schon verzichtet hat.

WIEBKE POROMBKA

Anja Frisch: „Schneehase. Erzählungen“. Luchterhand Literaturverlag (Sammlung Luchterhand), München 2006, 288 Seiten, 8,50 Euro