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: Trendsetter auf dem Bürgersteig

Alle gucken Fußball. Wir auch. Bis zum Ende der WM berichtet die taz live von den Berliner Spielplätzen. Heute: Deutschland gegen Bulgarien auf der Kastanienallee in Prenzlauer Berg.

Der Mann nähert sich vorsichtig. Er lächelt schüchtern. Links vor ihm, an der Hauswand, sitzt ein Haufen Leute. Rechts, kurz vor dem Bordstein, steht ein alter Fernseher. Es steht 1:0 im Viertelfinale. Um seinen Weg fortzusetzen müsste der Mann durchs Bild laufen. Er bleibt stehen.

Er ist fast der Einzige, der zu dieser Zeit über die Kastanienallee läuft. Niemand sonst ist draußen auf der Straße. Niemand außer dieser Gruppe von Hausbesetzern, die – ein fast revolutionärer Akt – einfach ihren Fernseher auf den Bürgersteig gestellt haben, um das Spiel zu sehen. Und offensichtlich Nichtdeutsche, wie der Passant. Alle anderen sitzen zu Hause. Die Straße ist leer. Die zwei Kneipen an der Kastanienallee: verwaist. Nur gegenüber in Ismaels türkischem Imbiss hocken ein paar Fans vor der kleinen Glotze, die über der Tür steht. Deutschland spielt. Gegen Bulgarien. Es ist 1994.

Zwölf Jahre später wird die Straße nicht wiederzuerkennen sein. In nahezu jedem Haus wird sich eine Kneipe befinden. Jede wird auf mindestens zwei Bildschirmen oder Leinwänden die WM übertragen. Und vor jedem TV-Bild werden sich die Massen drängen. Um den Plasmabildschirm vor Ismaels Imbiss. Unter dem Sonnendach des „Schwarz-Sauer“. Auf den Straßenbahngleisen vorm „103“. Vom Biergarten im Prater bis hinunter zum „Magnet“ am Hang der Veteranenstraße – eine Meile voller Fans.

Zwölf Jahre später wird die Straße nicht wiederzuerkennen sein. Denn in der Zwischenzeit werden TV-Übertragungen privatisiert worden sein. Premiere wird die Rechte an Live-Bildern gekauft und so die Fans vom Sofa gelockt haben. Denn zu Hause wird kein Fußball mehr gekommen sein. Dafür in der Kneipe, die wenig später Sportsbar hieß.

Zwölf Jahre später wird die Straße nicht wiederzuerkennen sein. Jeder junge Berliner wird hier leben. Und dank der Erfahrungen aus den coolen Sportsbars wird jeder hippe Berliner längst wissen, dass Fußballgucken in der Menge viel mehr Spaß macht als allein – auch wenn man keine Karte fürs Stadion hat. Und dass es dafür einen Fachbegriff gibt: Public Viewing.

Noch aber wagt der Passant nicht, durchs Bild zu laufen. Stattdessen riskiert er einen vorsichtigen Blick auf das Spiel. Da trifft Hristo Stoitchkov zum 1:1. Die Hausbesetzer jubeln. Der Migrant lächelt. Und setzt sich auf das äußerste Ende der Bank vor dem Haus. Das entscheidende 2:1 für die Bulgaren – nur zwei Minuten später – feiert er schon einträchtig mit den Besetzern. Mit wildfremden Menschen, durch den Fernsehfußball vereint.

Noch ahnt niemand der kleinen Gruppe, dass sie hier einen Trend setzen. Aber das Finale mit Italien, da sind sich alle einig, werden sie wieder auf der Straße gucken. GEREON ASMUTH

Alle Bars, Kneipen, Cafés und Imbisse rund um die Kastanienallee. Alle Spiele auf Leinwänden aller Größen. Eintritt frei. Mit etwas Glück bekommt man im Gedränge sogar ein Bier.