PABLO NERUDA
: Das geklaute Buch

Die Lust war mir vergangen

Welch einsamen Tag ich erlebt habe. Ich hätte in wehmütigsten Versen erzählen können, dass ich eine Frau geliebt hatte und zuweilen sie auch mich. Stattdessen ging ich zu Fuß von Kreuzberg nach Schöneberg, es war ein Zerstreuung spendender Spaziergang. In einem Antiquariat klaute ich ein Buch von Pablo Neruda, ich hatte gerade Lust auf seine Liebesgedichte. Denn wie Neruda, der seine besungene Albertina Rosa letztlich doch nicht heiratete, so hatte auch ich es versäumt, meiner Geliebten den Antrag zu machen. Wie Neruda hatte ich mich lieber vor ein weißes Blatt Papier gesetzt und hatte lächerliche Liebesgedichte geschrieben, anstatt als wirklicher Mensch zu lieben. Albertina Rosa und meine Geliebte heirateten schließlich andere Männer.

Ich war zuvor schon oft in dem Antiquariat gewesen. Die Frau, die dort arbeitete, war auch sehr sympathisch und hilfsbereit, und ich hatte überhaupt keinen Grund, sie zu beklauen. Aber dann steckte ich das Buch reflexartig in meine Umhängetasche und fühlte mich eins mit Neruda, dem großen Verräter der Liebe. Ich besuchte ein Café, trank dort zwei Tassen Cappuccino, rauchte einige Zigaretten und blätterte in dem geklauten Buch hin und her, ohne wirklich darin zu lesen. Die Lust an der Liebe, vielleicht auch nur die Lust an mir selbst, sie war mir vergangen. Nachdem ich bezahlt hatte, ging ich zu Fuß wieder nach Kreuzberg und fand eine Schwertfisch-Gummifigur auf der Straße. Gerade als ich sie aufgehoben hatte, schiss mir ein Vogel auf den Kopf. In meiner Wohnung angekommen, machte ich mir einen Jasmintee und fühlte mich ein bisschen wie Ernest Hemingway nach einer Safari.

Nachdem ich mit dem Buch in der Nacht noch zwei Mücken totgeschlagen hatte, stellte ich es am nächsten Tag unauffällig zurück ins Regal des Antiquariats. Vielleicht würde jemand anders Neruda noch mal brauchen.

TOBIAS PREMPER